Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
ich mit den Spiegeln verschmelzen, mit den Holzintarsien, habe aber das Gefühl, mit dem Holz dieser Möbel nichts anderes anfangen zu können, als es zu essen. Ich bin eine Termite. Ich werde entdeckt, meine Eier werden verbrannt, die Tunnel, die ich gegraben habe, mit Benzin gefüllt werden.
Sie bereiten mir einen fürstlichen Empfang. Sie sind ausnahmslos sehr nett. Niemand bemerkt die Täuschung, niemand sieht, wer ich wirklich bin. Ich bekomme eine doppelte Portion Fruchtgelee. Ich liebe Fruchtgelee. Nach dem Essen verbarrikadieren Gioele und ich uns in seinem Zimmer. Er zeigt mir seine Klebstoffsammlung. Er hat zig Sorten, viele davon stellt er mithilfe eines Chemiebaukastens in seinem hinter einem Vorhang verborgenen Labor her. Er behauptet, der größte Klebstoffexperte der Welt zu sein. Er besteht darauf, mir zu zeigen, wozu seine Kleber gut sind: Es gibt einen für Papier, einen für Metall und einen für Stoff. Der für Stoff interessiert mich sehr: Alle meine Taschen sind durchlöchert. Gioele zeigt mir, wie ich ein wenig Kleber auf ein Stück Stoff streichen, es in die Tasche stecken und an der richtigen Stelle aufkleben muss, damit der Flicken gut sitzt und keine Falten wirft. Das Ergebnis ist erstaunlich.
Ich benutze Gioeles Klebstoff für alles Mögliche. Wir werden dicke Freunde und treffen uns immer öfter. Gioele ist so groß wie ich, aber noch dünner, falls das überhaupt möglich ist, und trägt nur Maßkleidung. Er hat kastanienbraune Haare und einen hellen Teint. Außer mir wird manchmal noch ein anderer Freund eingeladen. Wir spielen mit Miniziegeln, errichten ganze mittelalterliche Städte. Im Chemielabor mischen wir Flüssigkeiten, die nach Gewürzen riechen. Wir tauchen Nägel in Reagenzgläser, um zu sehen, wie sie oxidieren. Wir machen Verfolgungsjagden durchs ganze Haus und erschrecken uns gegenseitig. Gioele besteht darauf, dass wir bei ihm übernachten. Wenn wir einwilligen, quetschen wir uns zu dritt in sein Bett, er liegt immer in der Mitte.
»Bin ich der Boss, ja oder nein?«, fragt er.
Nachts nimmt er meine Hand.
*
Zur Mitte des zweiten Ausbildungsjahres schenkt mir unsere Mutter in den Weihnachtsferien in Genua einen Fotoapparat zum Geburtstag. Er hat meinem Vater gehört und ist so einer mit Faltwulst und Lederhülle. Sie behauptet, ihn ganz unten in einer Schachtel gefunden zu haben. Gabriele kauft von dem Geld, das er mit dem Schreiben von Artikeln für eine studentische Monatszeitschrift verdient, Fotopapier und ein Handbuch. Darin wird erklärt, wie man eine Dunkelkammer einrichtet. Ich bin glücklich, so tolle Geschenke habe ich noch nie bekommen.
Zurück in Ivrea, besorge ich mir Entwicklerflüssigkeit, Pinzette und Entwicklerschalen aus den üblichen Lagerüberschüssen der Firma. Ich bitte Professoressa Scaglioni, ihren Keller als Dunkelkammer benutzen zu dürfen. Ich melde mich für einen Kletterkurs an. Am Wochenende gehe ich in die Berge und fotografiere. Wenn Gioele Zeit hat, begleitet er mich. Auch Gabriele besucht mich zwei- oder dreimal in der Wandersaison. Ich bin sechzehn, und er ist zwanzig. Es ist das erste Mal, dass ich ihm etwas beibringe. Gabriele macht das nichts aus, aber ich habe Angst, daran könnte etwas falsch sein.
Gabriele studiert auf der Scuola Normale Superiore di Pisa, Literaturwissenschaften und Philosophie. Er möchte einmal Journalist werden.
Wir sitzen auf einem Felsen, über zweitausend Meter über dem Meer. Die Luft ist klar. Vor uns erhebt sich der Mont Blanc, prähistorisch und zeitlos. Mit dem Feldstecher verfolgen wir zwei Gämsen, die eine Geröllhalde überqueren, um aus einem Bach zu trinken. Ein Milan kreist über uns.
»Fotografier ihn!«, sagt Gabriele.
»Er ist zu weit weg.«
»Quatsch, probier es einfach aus! Jetzt kommt er näher, los, mach!«
Ich versuche, ihn zu erwischen, ihn scharf zu stellen. Ich lehne mich an Gabrieles Schulter, um möglichst wenig zu wackeln. Wir schweigen eine Minute. Ich drücke den Auslöser.
»Hast du ihn?«, fragt er.
»Bestimmt.« Ich stecke den Fotoapparat zurück in die Hülle. »Wenn das Bild was geworden ist, bekommst du einen Abzug.«
»Warum gefällt dir die Fotografie?«
Ich denke nach. »Keine Ahnung«, sage ich.
»Das solltest du aber wissen, wenn du mal Fotograf werden möchtest. Wie willst du etwas tun, wenn du nicht weißt, warum?«
»Ich will nicht Fotograf werden.«
»Ich dachte ja nur, bei all den Fotos, die du in deinem Zimmer aufgehängt hast … Viele davon
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