Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
das mit dem, was Agata mir erzählt hat. Er ist schon sein ganzes Leben lang auf der Flucht, hat sie mal erzählt. Bis hin zu dem Punkt, dass er unsichtbar wird. Und das macht ihn in meinen Augen zu einem Gespenst. Bist du sicher, dass du nicht mit uns nach Capo Galilea zurückfliegen willst?«
Tja, war ich mir sicher, dass ich nicht mit nach Capo Galilea zurückfliegen wollte?
»Ich bleibe hier«, erwiderte ich.
»Ganz wie du willst«
»Er weiß unheimlich viel.«
»Zum Beispiel?«
»Er kennt Hunderte von fantastischen Orten.«
»Dort, wo er lebt?«
»Nein, nicht dort, wo er lebt: geheimnisvolle Inseln, Planeten und Urwälder.«
Opa Melo kam nicht dazu, etwas zu erwidern, weil wir gerade die Pasticceria betreten hatten und die Verkäuferin – eine junge Frau mit drei riesigen Piercings und den schwärzesten Augen, die ich je gesehen habe – hinter der Theke hervorkam, um uns zu bedienen. »Sie wünschen?«
»Eis zum Mitnehmen«, sagte Großvater. »Für fünf Personen. Zeno?«
»Lime und Ingwer.«
Großvater riss die Augen auf. »Lime und Ingwer?«
»Das schmeckt fantastisch, ich habe beides schon probiert.«
»Und sonst?«, fragte die Frau.
»Pfirsich und Waldfrucht.«
Großvater nickte. »Lime, Ingwer, Pfirsich und Waldfrucht. Wenn Sie dann noch eine Kugel Kokoseis obendrauf geben, ist mein Glück perfekt.«
»Genau dazu bin ich da: um Sie glücklich zu machen.«
»Das sagen Sie bestimmt zu jedem. Aber wenn Sie nichts dagegen haben, werte ich es als persönliche Aufmerksamkeit.«
Opa Melo und ich kamen nicht mehr auf den anderen Großvater zu sprechen. Vielleicht redete er mit meiner Mutter über ihn, aber mir stellte er keine weiteren Fragen mehr, und dafür war ich dankbar. Wenn ich von ihm schwärmte, hatte ich das Gefühl, ihn zu verraten – Opa Melo, meine ich. Ihn eifersüchtig zu machen. Ganz so, als müsste man seiner Mutter von der Zweitfrau des Vaters erzählen. Heute kann ich ihn verstehen: Wer ein Leben lang für einen da ist – körperlich, seelisch –, möchte auch, dass das anerkannt wird. Denn wenn man jemanden liebt, muss man auch für ihn da sein. Liebe auf Distanz funktioniert einfach nicht.
An diesem Abend aßen wir Pizza. Anschließend schlüpften meine Mutter und ich im Bed & Breakfast ins Lindbergh -, Oma und Opa ins Macramé - und der Onkel ins Discanto -Zimmer. Wir verabschiedeten uns im Flur und wünschten uns Gute Nacht. Im Lindbergh -Zimmer standen zwei Betten: ein Doppel- und ein Einzelbett.
»Such dir eines aus!«, hatte meine Mutter in der ersten Nacht gesagt.
Ich hatte das Einzelbett gewählt, das zwischen Schrank und Fenster gequetscht war. Ich schlafe gern an einem geschützten Ort und decke mich immer mit dem Laken zu, selbst wenn es heiß ist. Ich schlafe auf dem Bauch, denn wenn ich auf dem Rücken liege, komme ich mir wehrlos und verletzlich vor. Ich zog mich aus und schlüpfte unter das Laken. Ich blähte es und ließ es wieder auf mich herabsinken. Der kühle Stoff schmiegte sich eng an meine Haut: an Schenkel, Bauch und Brust. Meine Mutter nahm eine Dusche. Sie trocknete sich die Haare ohne Föhn, rubbelte sie nur mit einem Handtuch trocken, um keinen Lärm zu machen. Im Zimmer herrschte ein angenehmes Halbdunkel. Ich hörte, wie sie sich ausstreckte.
»Mama.«
»Ja?«
»Moment …«
Draußen fuhr ein Krankenwagen vorbei. Ich wartete, bis die an- und abschwellende Sirene verklungen, die Stille wieder eingekehrt war, um flüstern zu können. Es ist schön, nur zu flüstern.
»Mama.«
»Ja, was ist?«
»Ist die Transplantation gefährlich?«
»Die Operation, meinst du?«
»Müssen sie ihn aufschneiden oder so?«
»Nein, es ist eine Art Spritze. Nichts Schlimmes.«
»Und was kann dabei schiefgehen?«
»Nichts.«
»Irgendwas kann immer schiefgehen.«
»Alles wird gutgehen, Zeno. Und jetzt schlaf schön.«
Ein Hund bellte heiser, eine Stimme brachte ihn zum Schweigen. Aus dem Nichts schoss ein Moped heran; gleich darauf wurde der Motor abgestellt und der Ständer ausgeklappt.
»Die Nadel könnte infiziert sein.«
Meine Mutter antwortete nicht gleich, wahrscheinlich überlegte sie, ob sie so tun solle, als schliefe sie. Dann sagte sie mit einer vom Kissen erstickten Stimme: »Nein.«
»Woher wissen die, dass das Knochenmark vom Onkel passt?«
»Sie haben Untersuchungen gemacht.«
»Was für Untersuchungen?«
»Zeno!«
»Onkel Bruno trinkt gern und raucht Zigarren. Was, wenn Papà nach der Transplantation auch anfängt zu trinken
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