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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Tag«, sage ich.
    Er kratzt sich am Kopf. »Wir haben zusammen zu Mittag gegessen. Am Vormittag war er für ein paar letzte Recherchen in der Bibliothek. Wir waren bei Da Rosa essen, in einer Trattoria, in die wir oft gegangen sind, ganz in der Nähe der Fakultät.«
    »Was hat er gegessen?«, frage ich.
    »Was er gegessen hat? Keine Ahnung. Ein Nudelgericht, glaube ich. Ja, Pasta mit Sardinen, jetzt weiß ich es wieder. Wir haben uns noch mit der Köchin darüber unterhalten, sie ist Sizilianerin.«
    »Und dann?«, frage ich.
    »Dann hat er mich gebeten, ihn zum Tintenkauf für seinen Füller und zum Bezahlen der Miete zu begleiten. Was das anbelangt, war er immer superpünktlich. Er hat nie einen Tag zu spät bezahlt. Danach wollte er in eine berühmte Pasticceria hier in der Nähe. Dort gibt es in Schokolade getauchte kandierte Orangen. Er war ganz wild darauf. Anschließend haben wir uns verabschiedet wie immer.«
    Ich danke ihm und will gehen, aber Gabrieles Freund fasst mich am Arm und sagt: »Weißt du, was ich unheimlich finde, jetzt, wo ich darüber nachdenke? Gabrieles Gang war so wie immer. Du weißt schon, das Kinn emporgereckt, um in den Himmel zu schauen. Und dann war er immer so liebenswürdig und freundlich – zu allen. Und trotzdem war er schon unter der Erde.«
    »Da kommen wir alle hin«, sage ich.
    »Ja, aber weil es Schicksal ist, nicht freiwillig.«
    Ich bedanke mich bei ihm, gebe ihm unsere Telefonnummer, falls er wissen will, wo und wann Gabriele beerdigt wird.
    Ich kehre zu meiner Mutter zurück. »Willst du ihn wirklich nicht sehen?«, frage ich.
    Sie sitzt am offenen Fenster, ein leiser Luftzug kommt herein und bewegt die Vorhänge. Sie antwortet nicht, schüttelt verschreckt den Kopf. Am nächsten Tag reisen wir ab. Unterwegs knabbere ich kandierte Orangen aus einer Tüte.
    *
    Am Tag nach der Beerdigung kehre ich nach Ivrea zurück. Ich stürze mich in die Arbeit. Alle freuen sich, dass ich wieder da bin, dass ich mich so engagiere.
    Bei einer Besprechung mit Abteilungsleitern wage ich es vorzuschlagen, wie sich die Arbeitsprozesse optimieren lassen. Alle hören mir zu, einige sind nicht überzeugt, aber letztlich wird man meine Vorschläge annehmen: Ein Teil der Arbeiten, die man im mechanographischen Institut ausführt, werden unserer Abteilung unterstellt. Von nun an werden wir die Arbeitszyklen diktieren. Die Ergebnisse lassen nicht lange auf sich warten, sie sind überwältigend. Ich hoffe auf eine Beförderung, auf eine Gehaltserhöhung. Doch nichts passiert. Ich werde nicht befördert, und mein Gehalt bleibt dasselbe. Einige weniger verdiente Kollegen werden belohnt, aber ich nicht. Warum?
    »Du musst hingehen und darum bitten«, sagt Elena. »Du musst dich durchsetzen, auf dich aufmerksam machen.«
    »Vielleicht will die Firma das Geld, das sie in meine Ausbildung gesteckt hat, erst wieder reinholen. Das wäre nur fair.«
    Ich muss etwas finden, worauf ich mich konzentrieren kann, denke ich. Ich denke, dass ich denken muss. Dass ich Dinge vergessen und andere lernen muss.
    Ich entscheide mich für Informatik. Noch heißt das nicht Informatik, sondern elektronische Datenverarbeitung. Ich mache Erfahrungen mit Lochkarten, erlebe, wie aus mechanischen Rechnern die ersten Transistorrechner werden. Ich schreibe sogar einen Artikel für eine Zeitschrift, für eine wichtige Fachzeitschrift. Über die Möglichkeiten, die sich dank der sich weiterentwickelnden Informatik ergeben. Dann vergesse ich, dass ich ihn geschrieben habe. Erst viel später finde ich ihn wieder. Wütend verbrenne ich ihn im Ofen. Eines Tages schlage ich die Fachzeitschrift auf und sehe, dass mein Artikel veröffentlicht wurde. Ich reibe mir die Augen: Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn jemals abgeschickt zu haben.
    Am Wochenende fahre ich manchmal mit dem Zug nach Turin und esse bei Elena und ihren Eltern zu Mittag. Sie hat sich inzwischen für Medizin eingeschrieben, genau wie sie sich das immer gewünscht hat. Elena ist keine Jüdin, aber das ist mir egal.
    Eines Tages besichtigen wir gemeinsam ein Museum. In einem von vielen kleinen Fenstern beleuchteten Raum steht eine Statue. Sie zeigt Prometheus, der im Kaukasusgebirge an einen Felsen angekettet ist und dessen Leber von einem Adler gefressen wird. Sie besteht aus weißem Marmor. Ich fahre mit dem Finger darüber, sie ist glatt und kalt.
    »Manchmal fühle ich mich auch so«, sage ich.
    Sie versteht nicht, lächelt und verengt die Augen zu

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