Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
und Zigarren zu rauchen?«
»Red keinen Blödsinn.«
»Warum?«
»Darum.«
»Wieso ist das Blödsinn?«
»Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen, Zeno. Aber ich weiß es nicht, kapiert? Ich weiß nur, dass das nicht passieren wird. Ich weiß, dass das Knochenmark nichts mit den Lebensgewohnheiten eines Menschen zu tun hat. Und auch nichts mit seiner Religion oder dem Sport, den er treibt. Auch du weißt bestimmt Dinge, die du nicht erklären kannst.«
»Stell mich auf die Probe!«, sagte ich.
»Wie denn?«
»Stell mir eine Frage.«
»Zeno, es ist schon spät, und ich bin müde.«
»Nur eine.«
Ich hörte, wie sie seufzend das Gesicht im Kissen vergrub. »Wenn man gleich nach dem Essen ins kalte Wasser springt, bekommt man …?«
»Einen Blutandrang.«
»Und das heißt …«
»… man stirbt.«
»Ja, aber woran?«
»Am Blutandrang.«
»Und das heißt genau …?«
»Man bekommt einen Herzstillstand.«
»Wenn man stirbt, bleibt das Herz immer stehen.«
»Ja und?«
»Was ja und?«
»Und was passiert dann?«
»Weißt du das nicht?«
»Nein.«
»Aber du weißt, dass man stirbt.«
»Ja.«
»Gut. Selbst wenn das Knochenmark vom dicksten Mann der Welt stammen würde, wird sich Papà nicht in den dicksten Mann der Welt verwandeln. Das weiß ich einfach, auch wenn mir nicht klar ist, warum. Verstanden?«
Ich dachte an das X-Gen, das für die genetische Mutation der X-Men verantwortlich ist. »Mama.«
»Zeno, ich zähle jetzt bis zehn, und dann schläfst du. Eins, zwei, drei …«
»Mama.«
»… vier, fünf, sechs …«
»Mama.«
»Was ist denn?«
»Hat dir der Opa auch von fantastischen Orten erzählt?«
»Von welchen fantastischen Orten?«
»Von Rohan, von den Kalten Höhlen, von Camelot.«
»Nein, von fantastischen Orten war nie die Rede. Ich kann mich nur noch an eine Geschichte erinnern, die er mir oft erzählt hat. Sie hieß Der Herr der Reste .«
»Was war das für eine Geschichte?«
»Es ging um einen Typen, der Sachen recycelt. Genau weiß ich das nicht mehr.«
»Und was hat er dann daraus gemacht?«
»Ich sage doch, dass ich es nicht mehr genau weiß. Das musst du ihn schon selbst fragen.«
»Kann ich Papà eine SMS schicken?«
»Er schläft bestimmt schon.«
»Dann sieht er sie morgen gleich und weiß, dass wir an ihn gedacht haben. Wir haben uns, aber er ist allein.«
Ich wartete sekundenlang auf eine Antwort, die nicht kam. Ich stieg aus dem Bett und wühlte in der Rucksacktasche mit dem Handy, ohne das Licht anzumachen. Ich schaltete es ein. Als es aufblinkte, kam eine SMS .
»Er hat geschrieben«, sagte ich.
»Was denn?«
»Die SMS wurde vor anderthalb Stunden verschickt. Vielleicht ist er noch wach. Da steht: See you tomorrow, alligator.«
»Was heißt das?«
»Nichts, das ist nur so ein Spruch von uns.« Ich tippte meine SMS ein. Das Display leuchtete sanft, die Tasten quietschten hauchzart. »Soll ich ihn auch von dir grüßen?«
Schweigen.
»Mama?«
»Hmmmm?«
»Soll ich ihn auch von dir grüßen?«
»Ja.«
Ich schickte die SMS ab, ließ das Star TAC eine Weile auf meiner Brust liegen und wartete auf eine Antwort, leider vergeblich. Ich machte es aus, steckte es wieder in die Außentasche meines Rucksacks und kehrte ins Bett zurück. Ich konnte nicht schlafen, und wenn ich mit den Lidern flatterte, erschienen flimmernde Teilchen. Das Rauschen der Stadt verstummte. Wenn ich gut aufpasste, konnte ich hören, wie die Luftmoleküle sich aneinanderrieben. Ich stand auf und streckte mich neben meiner Mutter aus. Sie lag auf der Seite und atmete schwer. Ich schmiegte mich an ihren Rücken, passte mich an ihren Körper an, brachte meine Knie in ihre Kniekehlen, meinen Bauch an ihren Po und meine Nase zwischen ihre Haare. Sanft ließ ich eine Hand auf ihren Arm sinken. Ihre Müdigkeit übertrug sich auf mich, und ich schlief sofort ein.
Als wir an meinem letzten Tag das Zimmer meines Vaters betragen, war gerade eine blonde, gut gelaunte Krankenschwester bei ihm, die ihm während des Fiebermessens irgendwas erzählte. Onkel Bruno war gerade gegangen, um die Einwilligungserklärung zu unterschreiben.
»Hallo«, sagte mein Vater lächelnd.
Meine Mutter musterte die Krankenschwester. »Hallo.«
Die Krankenschwester umrundete hüstelnd das Bett und vervollständigte die Fieberkurve am Fußende des Bettes. »Bis später.«
» Tusen takk «, sagte mein Vater.
» Vaer så god «, erwiderte sie im Gehen.«
»Aha«, sagte Opa Melo. »Du scheinst dich ja
Weitere Kostenlose Bücher