Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
leichter, aber sanfter Wind, der die Luft ganz von selbst von jeglichem Schmutz befreite, von Rauch, Staub, Bakterien und Viren: Es war ein reinigender Wind.
Als ich dann meinen Vater vom Warteraum aus hinter der durchsichtigen Scheibe erblickte, in der sich das leuchtende Grün der Bäume spiegelte, war es, als entdeckte ich einen Patzer in einer Zeichnung. Er sah mich, und ich ihn, und das Lächeln, das sein Gesicht erstrahlen ließ, war das glücklichste und schwächste, das ich je an ihm gesehen hatte. Wir umarmten uns zwischen den Sesseln mit blauen Lederpolstern und den Tischchen mit Zeitschriften. Dann traten wir auf den Flur hinaus. Er war erschöpft. Zwischen den Wegen und Hecken entdeckte er gleich eine Bank zum Ausruhen und erkundigte sich nach meinem Sommer, nach Großvater.
Ich sagte, ich lebe mich so langsam ein. Der Ort sei schön, und Großvater nett, aber seltsam. Ich erzählte ihm von Luna und Isacco. Vom See und den gefluteten Häusern, vom Monticello und den Grotten. Ich beschrieb das Haus: jeden einzelnen Stein, jede Fensterbank und jeden Nagel. Ich erzählte ihm Geschichten, beschrieb ihm Leute: Signora Rosa und das Geistermädchen. Dass ich fast ertrunken wäre, berichtete ich ihm nicht, auch nicht von Anselmos Tod. Dafür zeichnete ich einen Plan des Dorfes in den Kies des Innenhofs: die Piazza, den Staudamm, die Straßen. Das Reden half gegen die Angst, bis ich jede Kleinigkeit beschrieben hatte. Ich schenkte ihm die Zeichnung von Phoenix, die ich extra für ihn angefertigt hatte. Er versprach, sie in seinem Zimmer übers Bett zu hängen. Meine Mutter war kurz Eis kaufen gegangen.
»Hast du die hässliche Kröte immer noch?«
»Welche hässliche Kröte?«
»So nennt Mama deine Krankheit: hässliche Kröte.«
Er lächelte. »Tja, hässlich ist sie wirklich.«
»Hast du sie noch?«
»Ja, aber wir behandeln sie.«
»Und die Behandlungen, tun die weh?«
»Nein. Na ja, ich bin oft müde, so wie heute. Manchmal wird mir auch schlecht. Ich bekomme viele Spritzen, aber es gibt hier einen Krankenpfleger, den solltest du mal sehen: Der setzt dir die Nadel, ohne dass du es merkst!«
Die Sonnenbräune und das Salz, die nach Jahren am Meer ein braunes Sediment auf seiner Haut gebildet hatten, ohne das ich ihn noch nie gesehen hatte, ja dessen Geschmack ich sogar kannte – weil ich ihn, als ich noch klein war, in Arme und Waden gebissen hatte, wenn wir uns spielerisch balgten –, waren völlig verschwunden. Die durchsichtige Haut, die dunklen Ringe unter den Augen, das Adernetz waren Spuren eines fremden Lebens, gehörten nicht zu ihm. Meine Mutter kam mit dem Eis: Malaga und Vanille. Wir aßen alle aus einem Becher. Mein Vater, der wieder etwas zu Kräften gekommen war, machte Witze über Infusionen, und wir sprachen über Transfusionen, als wären wir Vampire. Wir machten uns über die sizilianischen Krankenhäuser lustig, auch wenn es da alles andere als lustig zuging. Wir sprachen über Fußball, darüber, welche Spieler Palermo kaufen sollte, und mir war, als wäre mein Vater im Lauf des Vormittags zu neuen Kräften gekommen. Er wirkte irgendwie gesünder als noch um halb zehn, als ich ihn im Warteraum durch die Scheibe gesehen hatte. Ich sagte es ihm. Er umarmte meine Mutter und meinte: »Sie ist meine einzig wahre Medizin.« Dann drückte er ihr einen Kuss auf die Schläfe, direkt neben dem Auge.
Sofort wurde ich schrecklich traurig. Der Schmerz über diese Bemerkung traf mich heftiger als erwartet. Damals war mir gar nicht richtig klar, warum. Später verstand ich: Auch ich wollte »seine Medizin« sein. Ich beobachtete sie, und anstatt mich über ihre innige Verbundenheit, ihre Liebe zu freuen, an die ich eine körperliche Erinnerung habe, kam ich mir bloß vor wie ein Zuschauer in einer Schlacht, an der ich auch gern teilgenommen hätte, von der ich jedoch ausgeschlossen war. Ich wäre gern mit ihnen ins Feld gezogen, wir drei vereint im Kampf gegen die hässliche Kröte: Mr Fantastic, die Unsichtbare und Franklin Richards, ihr Sohn. Als Franklin Richards, sprich als Sohn zweier Superhelden, hätte ich außerdem unglaubliche Superkräfte besessen wie Telepathie, Telekinese und die Fähigkeit, die Wirklichkeit zu beeinflussen. So gesehen wäre ich eine große Hilfe gewesen. Aber nichts da: Die wahre Medizin meines Vaters war sie.
Am Tag darauf besichtigten wir das Aquarium. Ich war nicht richtig bei der Sache.
Die Besucher drängten sich vor den Haien oder Tropenfischen. Ich
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