Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
prächtig zu amüsieren.«
Ich setzte mich ans Bett meines Vaters und erlaubte es ihm, mir übers Haar zu streichen – etwas, das ich hasste und er liebte. »Was habt ihr gesagt?«
»Danke und bitte.«
»In welcher Sprache?«
»Auf Norwegisch.«
Meine Mutter zog die blauen Vorhänge auf, um Licht hereinzulassen. »Ich glaube nicht, dass es legal ist, norwegische Krankenschwestern einzustellen.«
»Sag noch mal Danke!«, bat ich ihn.
»Tusen takk. Tausend Dank .«
»Wann bekommst du deine Transplantation?«, fragte ich.
»Bald.«
»Darf ich bleiben?«
»Nein, Zeno«, erwiderte meine Mutter »Morgen fahren wir nach Colle Ferro zurück.«
»Wenn du willst, kümmern wir uns um ihn«, sagte Opa Melo.
Meine Mutter zog gerade die frisch gewaschenen T-Shirts und Schlafanzughosen meines Vaters aus der Tasche. Sie wirbelte herum und hob die Hände, als könnten sie gleich irgendeine Flüssigkeit absondern. »Darüber haben wir bereits gesprochen.«
»Ja, du hast recht.«
»Ach ja?« Ich erhob mich vom Bett und ließ mich auf den Eisenstuhl fallen. »Und ich habe da kein Wörtchen mitzureden? Warum bleibt ihr hier die ganze Zeit zusammen, bloß ich nicht? Das verstehe ich nicht.«
»Papà muss nach der Transplantation isoliert werden. Du könntest ihn nicht mal besuchen.«
»Zeno!«, sagte mein Vater. »Komm her.« Er setzte sich auf und schob sich das Kissen in den Rücken. »Das ist kein Ort für dich, es ist und bleibt ein Krankenhaus: Patienten, Medikamente, Notfälle. Mir ist lieber, du bist in Colle Ferro bei deinen Freunden …« Er schnippte mit den Fingern. »Wie heißen sie gleich wieder?«
»Luna und Isacco.«
»Genau. Mir ist lieber, du gehst mit ihnen schwimmen und hast Spaß.«
»Aber …«
»Wenn du Spaß hast, fühle ich mich auch gleich besser.«
Ich hielt die Luft an und nickte. Er drückte mich an sich und klatschte anschließend in die Hände. »Und jetzt gehen wir alle im Park spazieren, was meint ihr?«
Ein kurzer Abriss meines Lebens,
insoweit man sich überhaupt erinnern, die Vergangenheit
rekonstruieren oder imaginieren kann:
was die Erinnerung erhellt
1960–1966
Gabriele hat sich in seinem Zimmer in Pisa erhängt. Ich bleibe eine Nacht in Turin, bei meinem Cousin Davide. Anschließend nehmen wir wieder den Zug nach Genua. Meine Mutter wird am Bahnhof auf uns warten. Von dort aus nehmen wir einen zweiten Zug nach Pisa.
Das Licht fällt durch die niedrigen, dicken Wolken. Am Bahnhof Piazza Principe suchen wir im Wartesaal nach ihr, aber da ist sie nicht. Wir finden sie gefasst auf einer Bank sitzend vor, nicht im Wartesaal, sondern davor auf dem Bahnsteig. Sie ist allein, hat die gefalteten Hände in ihren Schoß gelegt und eine Tasche unter den Arm geklemmt. Ihr Blick ist nach innen gerichtet. Ein Kind geht auf die Knie, um einen Ball aufzuheben, der unter die Bank gerollt ist. Es nimmt ihn und sagt: »Entschuldigen Sie bitte.« Sie hört nichts, sagt nichts.
»Mama!«, rufe ich.
Sie antwortet nicht.
Ich setze mich neben sie. »Mama.«
Langsam dreht sie den Kopf und sieht mich sekundenlang an, so als wüsste sie nicht, wer ich bin. Ihre Augen irren über mein Gesicht, auf der Suche nach Anhaltspunkten: Poren, Brauen, Haaransatz.
»Mama, sieh mich an. Ich bin’s, Simone.«
»Simone«, wiederholt sie.
Ich nehme ihre Hand, dann beide Hände und drücke sie.
»Simone. Gabriele ist tot«, sagt sie.
»Wir müssen gehen, Mama. Der Zug fährt in einer Viertelstunde. Ist das deine Tasche?«
Sie streicht mir über die Wange. »Gabriele ist tot.«
»Ich weiß, Mama.« Ich helfe ihr beim Aufstehen, hake sie unter. Sie ist um zwanzig Jahre gealtert. Ihre Haare sind grau, die Haut runzlig wie Pergament. Sie trägt ein Stoffhütchen.
In Pisa nehmen wir uns drei Einzelzimmer in einem Hotel in der Innenstadt. Ich bitte Davide, bei ihr zu bleiben, während ich mich um alles kümmere: Wir wollen Gabriele nach Genua überführen und ihn auf dem Staglieno-Friedhof bestatten lassen. Ich identifiziere ihn. Ich bleibe nur wenige Sekunden, so lange, wie mir sein Gesicht gezeigt wird. Ich gehe ins Wohnheim, um seine Habe abzuholen: ein paar Bücher, die Uhr, die Unterlagen. Ein Freund von ihm erwartet mich bereits. Er stellt sich vor und sagt: »Ich habe ihn gut gekannt, wir haben vier Jahre lang zusammen studiert. Anfangs haben wir uns sogar ein Zimmer geteilt. Ich war der Letzte, der ihn gesehen hat.«
»Was hat er gemacht?«, frage ich.
»Wie meinst du das?«
»An seinem letzten
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