Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
haben.«
Es war seltsam, aber auch toll, wieder vereint zu sein: wir, die Großeltern und der Onkel, den ich schon seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Seltsam, weil wir zwar noch dieselben waren, aber die Umgebung fremd. Jeder bewegte sich in seinem eigenen Tempo durch Genua, ohne Vertrautheit mit den Straßen, Häusern und Geschäften. Zum Glück gab es das Meer. Abends suchten wir es mit den Augen und der Nase. Wir wussten, dass irgendwo da unten unsere Heimat lag. Die Großeltern hatten das Mare Montelusa für zehn Tage geschlossen und mit durchsichtigen Klebestreifen ein entsprechendes Pappschild an der Holztür des Restaurants angebracht. Nur ein Cateringauftrag von der Tochter eines Freundes, die am Sonntag heiraten wollte, war zugesagt worden; sämtliche Anweisungen dafür hatte man den drei Angestellten hinterlassen: dem Hilfskoch und den schon seit einer Ewigkeit für sie arbeitenden beiden Kellnern. Die Großeltern hatten ihnen erlaubt, wenn nötig, Freunde zu Hilfe zu rufen. Sie vertrauten ihnen. »Aber weil es ein Cateringauftrag ist«, betonte meine Großmutter. Seltsam war es auch deswegen, weil mein Vater ständig, wenn auch unsichtbar, zugegen war, wenn wir durch die Gassen liefen, eng zusammengerückt auf einer Bank focaccia aßen, uns abends verabschiedeten und Pläne für den nächsten Tag schmiedeten: wann wir aufbrechen, was wir machen würden. Gleichzeitig war es toll, weil es bedeutete, dass nicht alles anders geworden war: Es gab so etwas wie Kontinuität in unserem Leben.
Für die Großeltern und Onkel Bruno hatte meine Mutter die anderen Zimmer des Bed & Breakfast reserviert: Wir hatten das Lindbergh -Zimmer, die Großeltern das Macramé -Zimmer und der Onkel das Discanto -Zimmer.
Gleich nach ihrer Ankunft besuchten wir noch am Vormittag gemeinsam meinen Vater. Leider ging es ihm nicht besonders.
Bei seinem Anblick bekam meine Großmutter feuchte Augen.
»Entschuldigt, ich muss mal kurz ins Bad«, sagte sie. Großvater begann sofort, ihm vom Restaurant zu erzählen: wie viele Gäste kamen, dass er einen Lieferanten gewechselt habe. Seine Schilderungen ließen ein Diorama von Capo Galilea um uns herum entstehen. Der Onkel zeigte uns Fotos von meinem Cousin und meiner Cousine, von seiner Frau und vom neuen Haus: eine Villa in einem Vorort von Melbourne. Meine Mutter schlug vor, einen Spaziergang zu machen, aber meinem Vater war nicht danach.
»Entschuldigt mich bitte«, sagte er.
Der Fernseher lief: ein Radrennen. Wir ließen uns von den monotonen Bildern hypnotisieren, bis Opa Melo sagte, er werde uns jetzt allen ein Eis holen. Meine Mutter nickte und bat mich, ihn zu der Pasticceria zu begleiten, die wir immer aufsuchten, weil es dort gut war.
Der Asphalt verströmte eine feuchte Wärme, die sich an unsere Beine heftete. Zwei Jungen auf Rollerblades übten sich auf einer kleinen Piazza in akrobatischen Kunststücken. Sie verfolgten sich gegenseitig und sprangen auf die Bänke, wobei Plastik laut auf Holz prallte. Mir fielen der Caddusu und mein Fahrrad wieder ein, das ich in der Garage abgestellt hatte. Ich dachte an die Karussells und Buden, die in der Woche um Mariä Himmelfahrt auf dem Bolzplatz der Pfarrei aufgebaut wurden: Im Beisein von Michele und Salvo hatte ich einen Rekord im Dosenwerfen aufgestellt, der noch gebrochen werden musste. Meine Schritte verlangsamten sich. Zum ersten Mal blieb ich stehen und dachte fast schon mit Wehmut an Colle Ferro zurück, an die Kühle, die abends den Schweiß versiegen ließ.
»Und, wie ist er so?«, fragte Opa Melo.
»Wer?«
»Dein anderer Opa.«
»Wusstest du Bescheid?«
»Dass es ihn gibt? Na klar!«
Ich schnaubte. »Da war ich wohl der Einzige, der nicht Bescheid wusste.«
»Wichtig sind die Menschen, mit denen man aufwächst«, erklärte er. »Gespenster zählen nicht.«
»Er ist kein Gespenst!« Ich merkte, dass ich laut geworden war.
»Ich wollte dich nicht beleidigen.«
» Mich hast du nicht beleidigt.«
»Ich wollte auch ihn nicht beleidigen. Aber er ist nun mal der, der er ist.«
»Und zwar?«
Opa Melo nahm sich Zeit, bevor er antwortete. Er war viel älter als Opa Simone, seine Augen hockten hinter fetten Tränensäcken und waren so gefleckt und gesprenkelt wie eine Windschutzscheibe nach Durchquerung einer Furt. Ich zeigte auf die Pasticceria mit dem selbst gemachten Eis. Auf der Straße war niemand zu sehen, nichts als flimmernde Hitze.
»Ein Mann auf der Flucht«, begann er. »Soweit ich weiß, deckt sich
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