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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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schaffte es erst vor dem lila Becken mit den Quallen, meine verstaubten Gedankenbahnen zu verlassen. Die Tiere bewegten sich unglaublich langsam, trieben transparent dahin, als gäbe es ausschließlich sie, und genau so sollte es auch sein. Sie regneten von oben herab, blühten von unten auf, zogen klare, friedliche Bahnen. Sie waren ganz anders als die, die an der Küste von Capo Galilea einfielen: Wesen von einem anderen Stern.
    Meine Mutter umarmte mich von hinten und drückte mich an sich. »Schön, nicht wahr?«
    »Fantastisch. Kann man die auch zu Hause halten?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Stell dir vor, wir hätten welche im Wohnzimmer.«
    »Unglaublich.«
    »Oder im Restaurant. Alle würden kommen, um sie zu sehen.«
    »Man kann sie auch essen.«
    »Echt?«
    »Ja. Man frittiert sie. Ich glaube, die Chinesen machen das oder die Thailänder, keine Ahnung.«
    Nachdem wir kurz zum Duschen ins Bed & Breakfast zurückgekehrt waren, gingen wir am Nachmittag erneut in die Klinik. Mein Vater war richtig gut in Form. Wir machten einen langen Spaziergang im Park. Ich lernte einen Jungen in meinem Alter kennen, den Sohn eines Arztes, der einen Fußball dabeihatte. Wir improvisierten ein Match zwischen zwei Bänken. Manchmal rollte der Ball zu meinem Vater, der uns an einen Brunnen gelehnt zusah, woraufhin er ihn uns wieder flach zuwarf. Ich weiß noch, dass sich alle flüsternd unterhielten, so als könnte Lärm den Zustand der Kranken verschlechtern. Als ungewöhnlich laute Stimmen durch die Bäume zu uns drangen, gingen wir nachsehen, was passiert war. Eine Frau hatte das Bewusstsein verloren und wurde gerade wiederbelebt.
    »Kommt, lasst uns woanders hingehen!«, sagte meine Mutter und beendete ein Telefonat.
    Wir erreichten den Wartesaal: Zeit, sich zu verabschieden. »Ich habe eine Überraschung für dich, Zeno«, sagte meine Mutter. »Morgen fahren wir zum Flughafen.«
    »Und dann?«
    »Morgen Vormittag kommen die Großeltern. Und am Nachmittag Onkel Bruno.«
    »Die Großeltern? Onkel Bruno? Die Oma traut sich in ein Flugzeug?«
    Meine Eltern brachen in Gelächter aus. »Anscheinend schon.«
    »Die Oma besteigt tatsächlich ein Flugzeug?«
    »Am besten, wir reservieren gleich ein Zimmer für sie«, schlug mein Vater vor.
    Nonna Giovanna war nämlich noch nie in ihrem Leben geflogen, und nicht nur das: Sie war praktisch noch nie aus Capo Galilea herausgekommen. Das Lokal war ihr Leben, und wie sagte sie immer so schön: »Bisher ist die Welt zu uns gekommen, warum sollte es jetzt andersrum sein?« Großvater reiste durchaus: zu Messen, Volksfesten, Lebensmittelausstellungen. Aber sie fuhr nie mit. Zum einen, weil sie sich um den Haushalt und das Lokal kümmern musste – seit Jahren hatten sie nur an Weihnachten und am ersten Januar geschlossen, und auch das nur aus Angst vor möglichen Katastrophen. Dass sie nach Genua kommen würde – und das mit dem Flugzeug –, war die Sensation des Tages. Bevor wir uns trennten, malten wir uns die möglichen Missverständnisse beim Check-in oder mit den Stewardessen aus, ihr Staunen während des Flugs, ihre Hand, welche die ihres Mannes umklammerte, mit der innigen, beschützenden Wärme, die ihre Liebe fünfzig Jahre nicht hatte erkalten lassen.
    Der Flug hatte vierzig Minuten Verspätung. Wir tranken einen Cappuccino in der Bar, und ich aß noch eine Brioche, während sich meine Mutter eine Zeitschrift und mir den neuesten Nathan Never kaufte. Während wir dort warteten, tauchte ich in die Kanalisation der Città Est ein. Sie dagegen hatte die Zeitschrift auf dem Schoß und den Blick nach innen gekehrt. Wir schwiegen, wie lange, weiß ich nicht, bis sie auf einmal sagte: »Die Großeltern und Onkel Bruno kommen zur Transplantation.«
    Ich sah von meinem Comic auf. »Zu welcher Transplantation?«
    »Zur Knochenmarkstransplantation deines Vaters.«
    Ich klappte den Nathan Never zu. »Was ist Knochenmark?«
    »Ein Gewebe in den Knochen, das die Produktion der Blutzellen kontrolliert. Aber nicht alle Menschen haben das gleiche Knochenmark. Zum Glück ist das von Onkel Bruno kompatibel.«
    »Ist meines nicht besser?«, fragte ich. »Ich bin schließlich sein Sohn.«
    Meine Mutter lächelte. Sie griff quer über den Tisch und nahm meine Hand. »Du bist großartig, weißt du das?«
    »Und?«
    »Nein. Eltern und Kinder sind fast nie kompatibel. Weil du zwar sein, aber auch mein Sohn bist.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Tja«, seufzte sie. »Ich auch nicht. Wir müssen Vertrauen

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