Der Sommer deines Todes
denkt Mary.
Jeder Schritt ist ein Tritt, jeder Tritt ein Schritt
, hat sie ihren Schülern früher beim Tai-Chi-Unterricht eingebläut.
Jeder Augenblick ist heilig. Verschwendet keine Energie.
«Sprich nicht mir ihr», ermahnt Liz Blaine. «Und komm da raus.»
Blaine errötet. «Aber Mom, sie wissen …»
«Ich habe dir gesagt, dass du dich da raushalten sollst.»
Dathi steht jetzt näher an der offenen Tür als Blaine. Mary hofft inständig, dass das Mädchen ihre Gedanken lesen kann.
«O nein!» Mary wirbelt zu dem Fenster herum, zeigt Richtung Strand, wo einer der Aufseher steht und sie beobachtet. Der andere Aufseher patrouilliert wahrscheinlich wie üblich auf dem Gelände. Mary ist sich des Risikos durchaus bewusst, doch es gibt keine Alternative.
Wie erwartet drehen sich Liz und der Aufpasser um und schauen zum Strand.
Mary nutzt ihre Chance, holt mit dem Fuß aus und verpasst der verdutzten Blaine einen Tritt. Der zweite Tritt lässt sie zu Boden gehen.
«Free, Dathi … haut ab!», brüllt Mary, tritt gegen Blaines Hand, die nach ihr greift, und nutzt den Schwung, um die junge Frau auf den Bauch zu drehen. Danach stellt sie sich auf Blaines Rücken, damit sie sich nicht mehr rühren kann, und schaut atemlos ihren tapferen Teenagern hinterher, die gerade durch die offene Tür sprinten.
Jetzt bist du frei, Free
, schießt es Mary vor lauter Erleichterung durch den Kopf, doch ihr Optimismus währt nicht lange.
Draußen feuert jemand einen Schuss ab.
Vor dem Fenster setzt sich Liz in Bewegung.
Und Ben weiß vor lauter Angst nicht mehr ein noch aus. Mary versucht, ihre Chancen abzuwägen. Kann sie zu ihm laufen, ihn schnappen und mit ihm türmen? Nein, für so ein Manöver bleibt ihr nicht genug Zeit.
Ich tue mich schwer, den Gang einzulegen, gerate ins Schleudern, bringe den Wagen wieder in die Spur und gebe Gas. Endlich gelingt es mir, meine Verfolger abzuhängen.
Ich reduziere die Geschwindigkeit, werfe einen Blick in den Rückspiegel. Sowohl der Lieferwagen als auch der silberne Sportflitzer sind zurückgefallen.
Ob sie angehalten haben oder noch fahren, lässt sich aus der Entfernung schwer einschätzen, aber eines steht fest: Ich habe sie abgeschüttelt und
bin in Sicherheit, in Sicherheit, in Sicherheit
.
Liz steht mit einem der Aufseher neben der Tür und herrscht ihre Tochter an: «Du, nach oben!»
Blaine wartet, dass Mary den Fuß von ihrem Rücken nimmt. Mary gibt sich geschlagen. Wegen Ben. Und weil der Aufseher bewaffnet ist. Widerwillig zieht sie sich zurück und beobachtet, wie sich Blaine mühsam aufrichtet und zu ihrer Mutter hinüberhumpelt.
«Du», weist Liz den Aufseher an, «schnappst dir den Jungen.»
Mary sprintet zu Ben hinüber, packt seine Hand und will mit ihm ins nächste Schlafzimmer rennen, aber der Aufseher holt sie im Flur ein.
«Nein!», kreischt Mary.
Ben, der vor Verzweiflung in Tränen ausbricht, klammert sich an ihr fest.
«Alles wird gut, alles wird gut», lügt sie. Er wird ihr aus den Armen gerissen, ehe sie ihm noch einen Kuss geben kann.
Die Eingangstür fällt mit einem lauten Knall zu. Bens Jammern verhallt. Mary bricht auf dem Boden zusammen, während ein Schloss nach dem anderen verriegelt wird.
Stück für Stück setzt sie die Puzzleteilchen zusammen, die zu diesem Fiasko geführt haben: Sie hat das Foto gefunden und Mario diese Mail geschrieben.
Warum sind die beiden Millerhausen-Frauen auf dieser Insel? Und was haben sie mit Mary und den Kindern vor?
Was ist Karin in London zugestoßen? Und wo steckt Mac?
Was hatte es mit dem Kroll-Job tatsächlich auf sich?
Und plötzlich sieht sie das ganze Bild.
Lacie Chen, die Kroll-Mitarbeiterin, hat ihnen einen Köder hingehalten und darauf vertraut, dass sie anbeißen. Und das haben sie – wie kleine dumme Fische. Man hat sie auf raffinierte Weise aus dem Weg geschafft. Aber warum?
Kapitel 12
O bwohl ich ein Glas Wein und eiskaltes Wasser getrunken habe, obwohl ich mich bemühe, langsam und tief durchzuatmen, obwohl ich mir immer wieder vergegenwärtige, dass diese wahnwitzige Verfolgungsjagd vorbei ist und ich sie überlebt habe, zittern meine Hände wie Espenlaub. Anscheinend gibt es überall auf der Welt gemeingefährliche Straßen-Rowdys: in Brooklyn, in Maplewood, wo ich früher gewohnt habe, und in jeder anderen Stadt, in die uns mein Vater schleppte, der bei der Armee war und regelmäßig versetzt wurde. Setz einen Menschen hinter ein Steuer, und er fängt an zu rasen –
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