Der Sommer deines Todes
Millerhausen kommt in abgeschnittenen Jeans und einem gestreiften T-Shirt herein.
Ich sitze im Wagen auf dem Flughafenparkplatz und bringe es nicht übers Herz, ohne Mac wegzufahren. Das Geräusch eines startenden Fliegers lässt mich zusammenzucken. Ich lasse das Fenster herunter und stecke meinen Kopf in den Backofen. Die Hitze auf Sardinien erscheint mir beinahe aberwitzig. Oben am Himmel fliegt das Flugzeug weiter; eine andere Maschine befindet sich im Anflug. Wahrscheinlich wartet Mac noch aufs Boarding, doch für mich ist er schon über alle Berge.
Die Frau aus dem Navi begrüßt mich: «Fahrt zur Via Degli Oleandri. Verlassen Sie den Parkplatz und biegen Sie an der nächsten Kreuzung rechts ab.» Sie klingt so vernünftig, dass ich sie hasse. Kurzerhand suche ich im Navi die Spracheinstellung, wähle den irischen Sean und verabschiede mich von der amerikanischen Jane. Ich möchte jetzt unbedingt eine Stimme hören, die mich an Mac erinnert, eine irische Stimme, die fast genauso klingt wie die von Macs verstorbenem Vater und die mich fröhlich stimmt. Eine Stimme, die mich an Macs Abschiedsworte denken lässt: «Jemand muss die Stellung halten.» Eine Stimme, die mir hilft, nicht gleich die Fassung zu verlieren, sobald ich ohne die Person zurechtkommen muss, auf die ich mich mittlerweile bedingungslos verlasse.
An der Flughafenausfahrt gehe ich vom Gas, um die anderen Fahrzeuge, die Vorfahrt haben, vorbeizulassen, und prompt versagt die Kupplung. Während ich krampfhaft versuche, den ersten Gang einzulegen, hupen die sich hinter mit stauenden Autos. Nach einer Minute spüre ich, wie die Kupplung greift, gebe Gas und fahre mutterseelenallein durch ein mir immer noch fremdes Land.
Ich könnte jetzt einfach nach Norden fahren und Liz Braud fragen, was sie weiß, doch ich habe Macs entschiedenes Nein und seine nachdenkliche Miene nicht vergessen. Irgendetwas sagt mir, dass ein Alleingang keine gute Idee ist. Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich nicht abschätzen, wo Gefahr droht und wo nicht. Und Mac hat recht: Wir werden dieses Rätsel nur lösen, wenn wir zusammenarbeiten.
Die Fahrt nach Capitana fühlt sich ohne Mac endlos an, aber zumindest muss ich keine Felsklippen umkurven. Kaum habe ich den Flughafen und die Stadt hinter mir gelassen, lässt der Verkehr merklich nach. Kilometer um Kilometer lege ich ohne Kupplungsprobleme zurück, fahre an Palmen, Beach Clubs und Restaurants vorbei.
Zu meiner Rechten liegt Su Marigu, das Restaurant, wo ich gestern Abend mit Mac gegessen habe. Ein Stück weiter verkauft ein dickbäuchiger Mann direkt aus seinem Lieferwagen heraus Strandliegen und Sonnenschirme. Eine Frau steht am Fenster und schüttelt einen Teppich aus. All diese Orte, diese Szenen sollten vertraut sein und sind es doch nicht.
Dieses graduelle Eintauchen in eine neue Umgebung, das langsam nachlassende Fremdeln, das Überraschende, das Magische, das Reisen auszeichnet – all diese Empfindungen strömen unvermittelt und ungefiltert auf mich ein. Hier ist alles anders, unbekannt. Was braucht es, damit ich, ganz auf mich gestellt, diese Insel begreife, ihre Geheimnisse lüften kann und endlich meine Familie finde?
Wenn ich anhalte und ein Geschäft betrete, sehe ich dann ein Fahndungsplakat? Oder wird die Suche nach vermissten Personen hier anders gehandhabt?
Warum habe ich noch nichts von Enzio Greco gehört? Ich weiß, dass er existiert, denn wir haben mit ihm erst heute Morgen in seinem Büro gesprochen.
Ich schalte das Radio ein. Aber da ich kein Wort verstehe, mache ich es wieder aus und drehe die Klimaanlage hoch.
Der Verkehr nimmt schlagartig zu, was mich beunruhigt. Nein, eigentlich bringen mich ganz andere Dinge aus der Fassung: ein brauner Lieferwagen, der viel zu dicht auffährt, und ein silberner Sportflitzer mit zwei Männern neben mir. Der Beifahrer, ein junger Kerl mit blonden Haaren, steckt den Kopf zum Fenster heraus und ruft dem Fahrer des Lieferwagens etwas zu. Im Rückspiegel erkenne ich einen dünnen Mann hinter dem Steuer. Am Hals hat er eine Schlange tätowiert, die mit gespaltener Zunge sein Kinn leckt. Der Typ im silbernen Sportflitzer reckt den halben Oberkörper aus dem Fenster, zeigt dem Schlangenmann den Stinkefinger und zieht sich dann lachend in den Wagen zurück.
Aus Sorge, dass die Kupplung wieder versagt, umklammere ich das Lenkrad und konzentriere mich aufs Fahren. Der Fahrer des Lieferwagens hupt ungehalten.
«Hey!», rufe ich impulsiv und bereue es sofort.
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