Der Sommer deines Todes
Scherz ändert nichts an der Tatsache, dass sie verschleppt wurden und gefangen gehalten werden, dass an Strandspaziergänge oder derlei Zeitvertreib nicht zu denken ist. In dem Moment geht Mary mal wieder durch den Kopf, dass Karin, dem Foto nach zu urteilen, in England festgehalten wird, was das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit nur noch verstärkt. Die negativen Gefühle drohen sie zu ersticken, ihren Geist zu vernebeln. Sie versucht, dagegen anzukämpfen, doch es fällt ihr von Stunde zu Stunde schwerer. Stumm betet sie, dass Mac irgendwo dort draußen ist und nach ihnen sucht.
Die heiße Sonne, die durch das aufs Meer hinausgehende Fenster fällt, zwingt Ben, sich einen anderen Platz zum Spielen zu suchen. Wenn der heutige Tag wie der gestrige verlaufen sollte, wovon auszugehen ist, wird er den ganzen Nachmittag damit verbringen, den wandernden Schatten nachzujagen.
Fremont liegt mit ausgestreckten Beinen auf der Couch, starrt an die Decke, das aufgeschlagene Buch auf seinem Bauch. Mary würde ihr letztes Hemd gegen eine Gitarre eintauschen, damit sich ihr Sohn, der noch nie sonderlich gern gelesen hat, beschäftigen könnte. Dass sie hier keinen Computer haben, versteht sich von selbst. Die Erkenntnis, wie verloren ihr Sohn ohne Musik und Internet ist, macht ihr zu schaffen. Ben und Dathi sind weitaus besser in der Lage, sich selbst zu beschäftigen, denn Ben ist noch klein und Dathi, in Indien aufgewachsen, längst nicht so verwöhnt.
«Jetzt wird unser Durchhaltevermögen auf die Probe gestellt», erinnert Mary die Kinder. Die Teenager ignorieren ihren Kommentar, während Ben, der natürlich nicht versteht, wovon sie redet, den Blick hebt und sie angrinst. Sie dankt es ihm mit einem Lächeln.
Nachdem Dathi das Geschirr gespült hat, dreht sie das Wasser ab. «Mit den richtigen Zutaten könnte ich etwas backen.»
«Bei der Hitze?», fragt Mary.
«Dann hätte ich wenigstens etwas zu tun.»
«Und wir könnten essen», meldet sich Fremont zu Wort. «Scheiße, was würde ich für einen Schokoladenkuchen geben?»
«Free!»
«Ich bin alles, nur nicht frei, Mom, wie ich schon häufiger klargestellt habe.»
«Pass bitte auf, was du sagst, wenn Ben dabei ist.»
Fremont verdreht die Augen. Seine Stirn ist von roten Pusteln überzogen, da er sein Medikament gegen Akne nicht hat. Sein Afro, um den er sich nicht mehr kümmert, sieht inzwischen eher wie eine Dreadlock-Mähne aus. Mary weiß noch nicht, ob ihr die neue Frisur gefällt oder sie sie nur schlampig findet.
«Wie lange noch, Mom?» Voller Energie schwingt er die Beine von der Couch und springt auf. «Wieso, verdammt noch mal, machen wir uns nicht einfach vom Acker?»
«Nun», beginnt sie, um Gelassenheit bemüht, «ich würde vorschlagen, dass wir genau das tun, wenn sich die Gelegenheit bietet. Bis dahin … sitzen wir hier fest.» Sie kann es sich gerade noch verkneifen, nicht zu sagen, was sie wirklich denkt:
Wir sind Vieh, das auf den Schlachter wartet
. So schätzt sie ihre Situation nun einmal ein, doch ihre Befürchtung muss sie für sich behalten.
Ihr Sohn starrt sie an und stellt eine von diesen Fragen, auf die sie keine Antwort hat. «Warum sind wir hier?»
«Keine Ahnung. Es muss sich um einen Irrtum handeln.» Wieder spricht sie nicht die Wahrheit. Dass man sie entführt hat, ist ihrer Meinung alles andere als ein Irrtum.
Draußen holt Emiliana ein Paket aus dem Wagen und geht damit zum Bungalow.
Und plötzlich dämmert es Mary, wo sie dieses Gesicht schon mal gesehen hat.
Auf dem Foto von den Rossis sind Blaine Millerhausen und diese Frau abgelichtet. Damals waren ihre Haare kürzer und nicht blond gefärbt, sondern nur blond gesträhnt, aber das Gesicht hat sich nicht verändert.
Emiliana ist die andere Frau auf dem Foto.
Einer Eingebung folgend, stürmt Mary an Ben und Fremont vorbei, bleibt am Fenster stehen und ruft: «Liz!»
Emiliana hält inne, dreht sich um, wirft Mary einen höchst irritierten Blick zu. In der grellen Sonne ziehen sich ihre Pupillen zusammen.
«Liz Millerhausen!»
Fremont stellt sich neben seine Mutter. «Du kennst sie?»
«Ich möchte mit Ihnen reden, Liz! Ich möchte wissen, was das hier soll.»
«Woher kennst du sie?»
«Was immer Sie vorhaben, es wird nicht funktionieren.»
«Mom, wovon redest du?»
«Free … pst.»
Ihre Stimme lockt die andere Frau aus dem Bungalow. Langsam wird die Eingangstür zu ihrem Gefängnis aufgeschlossen, eine Brise vom Meer weht ins Haus, und Blaine
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