Der Sommer deines Todes
nicht die Nerven verlieren darf. In Indien war sie vier Tage auf der Flucht vor ihrem geldgierigen Onkel und dem Menschenhändler, der sie verkaufen wollte. Damals endete ihre Kindheit von einem Tag auf den anderen: Zuerst starb ihre Großmutter, ihre Beschützerin, an einem Herzinfarkt, dann wurde ihre Mutter, ihr Vorbild, in New York ermordet, und dann tauchte aus dem Nichts Karin auf, ihre Retterin, und holte sie innerhalb von wenigen Tagen zu sich nach Amerika.
Niemals wird sie vergessen, wie sie Karins Mail in diesem heruntergekommenen Schuppen öffnete, der sich hochgestochen als Cyber-Café bezeichnete, jedoch kaum mehr als eine ranzige Bude war, wo man gegen Gebühr einen Computer nutzen konnte. Karins Worte stimmten sie optimistisch: Sie war nicht zu einem Leben auf der Straße verdammt und konnte nach New York reisen, so, wie es ihre Mutter geplant hatte. Natürlich war es riskant, Mails zu checken und damit einen elektronischen Fingerabdruck zu hinterlassen. Dathi hielt es für unwahrscheinlich, dass ihr Onkel Ishat im Netz nachspionierte, aber bei dem Menschenhändler war sie sich da längst nicht so sicher. Mit ihren zwölf Jahren ahnte sie zwar, dass sie in Schwierigkeiten steckte, aber sie war nicht in der Lage, ihre Gegner einzuschätzen.
Jetzt, anderthalb Jahre später, sieht sie viel klarer: Man darf nicht rasten und muss gelegentlich Risiken eingehen. Und sie und Fremont werden nur überleben, wenn sie etwas zu trinken auftreiben.
Am Nachmittag hatte sie ein Mann ein Stück mitgenommen, der leider nicht mal Hilfe auf Englisch verstand und sie dann vor einem Straßencafé absetzte, wo Menschen an verrosteten Tischen saßen und sich in der sengenden Hitze ein kühles Getränk genehmigten. Als sie sich dem Café näherten, sah die Frau hinter der Theke die beiden jugendlichen, dunkelhäutigen Tramper an, als wären sie Abschaum, doch Dathi und Fremont war nicht nur ihr abschätziger Blick aufgefallen.
Hinter der Theke stand ein Fernseher im Regal. Auf dem Bildschirm war das Gesicht des weißhaarigen Mannes zu sehen, der Emiliana und Cosima, Liz und Blaine oder wie auch immer sie heißen mögen, in den vergangenen beiden Tagen besucht hatte. Darunter stand:
Enzio Greco, Commissario di Polizia
. Nach den Bildern zu urteilen, sprach er über einen Todesfall. Im Hintergrund wurde ein Leichnam in einen Krankenwagen geschoben, der dann wegfuhr.
«Hast du das gesehen?»
«Ja, Mist. Irgendetwas stimmt hier nicht», antwortete Fremont
«Wir verschwinden besser.»
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machten sie kehrt und trampten weiter. Schließlich landeten sie, dem Schild zufolge, an dem sie vorbeigefahren waren, in einem Ort namens Budoni.
Nun marschieren sie auf der Suche nach etwas Trinkbarem die mondbeschienene Straße hinunter. Sie haben verabredet, niemanden um Hilfe zu bitten, weil ihnen das zu riskant erscheint. Sollte der weißhaarige Freund von Emiliana an der Entführung beteiligt sein, bedeutet das, dass man der Polizei nicht trauen kann und sie auf sich allein gestellt sind.
Jetzt gilt es, etwas zu trinken aufzutreiben und einen Schlafplatz zu finden. Morgen müssen sie dann versuchen, irgendwie nach Süden zu kommen, zurück zum Ferienhaus – in der Hoffnung, dass Karin und Mac inzwischen eingetroffen sind und nach ihnen suchen.
Samstag, 14. Juli
Ich wache in den Sachen auf, die ich bereits gestern getragen habe. Neben mir liegt der aufgeschlagene
Lonely Planet
. Als ich mich strecke, werfe ich aus Versehen das Buch auf den Boden. Ich hebe es geschwind auf und versuche vergeblich, mich zu orientieren. Was soll’s, sage ich mir, ich weiß ja, was zu tun ist. Vergangene Nacht habe ich Bücher gewälzt in der Hoffnung, diese Insel zu begreifen und eine Vorstellung davon zu kriegen, wo ich mit meiner Suche beginnen soll. Will man hier untertauchen oder jemanden verstecken, hat man zwei Optionen: große Menschenansammlungen und die Wildnis. Von daher werde ich mich zuerst in Cagliari umsehen und danach den Suchradius ausweiten. Diese Strategie erlaubt es mir, Enzio Greco einen kurzen Besuch abzustatten.
Die Morgensonne fällt durch das Fenster, das ich offen gelassen habe, um die kühle Nachtluft hereinzulassen. In einem Klima wie dem hiesigen rechnet man mit Mücken, doch weit gefehlt. Neugierig habe ich den Reiseführer zu Rate gezogen und erfahren, dass es auf Sardinien früher nur so von Mücken wimmelte und die Bewohner scharenweise an Malaria starben. Um dem ein Ende zu
Weitere Kostenlose Bücher