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Der Sommer deines Todes

Der Sommer deines Todes

Titel: Der Sommer deines Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Pepper
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hier illegal.»
    «Warum tun Sie das? Was haben Sie gegen uns?»
    «Ich? Nichts.» Der alte Mann lächelt, nickt zum Abschied und verschwindet.
    Fremont springt von der harten Bank auf, umklammert mit beiden Händen die Gitterstäbe und schreit: «Für wen tun Sie das?» Seine Stimme hallt durch den feuchtkalten Korridor. «Was ist mit Dathi?», brüllt er. «Was haben Sie mit ihr gemacht?»
    Keine Antwort. Er hört nur, wie die Tür mit lautem Knall ins Schloss fällt.
     
    Marys Körper fühlt sich bleiern an, ihr Kopf hohl. Ihr Zustand verschlimmert sich von Stunde zu Stunde. Die sich an ihren Körper schmiegenden Kissen hüllen sie wie ein schützender Kokon ein. Wieder hat jemand neben der Tür Lebensmittel deponiert. Da sie die beiden anderen Tüten nicht angerührt hat, wird der faulige Gestank immer unerträglicher.
    Während der letzten beiden Tage hat sie die Szene in Gedanken immer wieder durchgespielt und ist nun felsenfest davon überzeugt, dass Fremont auf der Flucht erschossen wurde. Diese Einsicht macht sie fix und fertig. Und sobald sie an Dathi denkt – ein dunkelhäutiges Mädchen, auf sich allein gestellt in einem fremden Land –, sieht sie vor ihrem geistigen Auge, was ihr zustoßen wird oder bereits widerfahren ist. In einem Punkt tappt sie jedoch völlig im Dunkel: Sie hat nicht die geringste Ahnung, welches Schicksal Ben ereilt haben könnte. Wie soll sie Mac gegenübertreten, ohne zu wissen, was mit Ben passiert ist? Wie soll sie erklären, dass sie in einem Anfall geistiger Umnachtung Dathi und Fremont zu einer Flucht überredet hat, die nur anfänglich wie ein Aufbruch in die Freiheit wirkte und sich dann als großes dunkles Loch erwies. So kann sie Mac jedenfalls nicht mehr in die Augen sehen – oder Karin, falls es ihr gelungen sein sollte, sich zu befreien. Mary hat versagt, sie hat Karins und Macs Kinder und ihren eigenen Sohn aus den Augen verloren, sie hat sie im Stich gelassen. Sie kann einfach nicht mehr. Sie kann einfach nicht mehr.
    Sie erinnert sich an jene Zeit, wo der kleine, süße Fremont nur ihr gehörte. Damals hat er sie noch nicht verflucht, sich noch nicht in sein Schneckenhaus zurückgezogen.
    Damals sang ihm Mary noch Kinderlieder vor, wie es alle anderen Mütter auch tun. Sie war so glücklich. Dass sie sich von anderen Familien unterschieden, dass sie alleinerziehend und ihr Sohn halb weiß, halb schwarz war, was viele Menschen befremdete, kümmerte sie nicht. Mary, Freigeist und Rebellin, schaute immer unter die Oberfläche, bohrte nach, wenn ihr jemand Rätsel aufgab, recherchierte so lange, bis ihr Wissensdurst gestillt war.
    Irgendwann – Fremont musste damals drei Jahre alt gewesen sein – fing sie an, sich Gedanken darüber zu machen, was sie ihm da vorsang. Wie sich herausstellte, war
Mother Goose
richtig blutrünstig und wurde nur noch von dem Liedchen übertroffen, das sie besonders gern mochte:
    Mary, Mary, so ganz anderen Sinns
    Wie wächst dein Garten?
    Mit silbernen Glocken und Herzmuscheln
    und schönen Mädchen, in einer Reihe.
    Ihr ganzes Leben lang hatte sie geglaubt, die besungene Mary wäre süß und streitlustig – genauso wie sie. Sie ist als kleines Mädchen so gern im Garten ihrer Mutter herumgelaufen und hat vor sich hin gesummt. Später als junge Frau war sie, auf der Suche nach Liebe, fast jeden Abend in Lesbenkneipen:
schöne Mädchen in einer Reihe
.
    Nur, dass die Mary im Lied Mary Tudor war, die Tochter von Heinrich  VIII . Den Spitznamen Maria die Blutige verdiente sie sich als standhafte Katholikin, indem sie Protestanten köpfen ließ und sie auf dem Friedhof in ihrem Garten beerdigte. Mädchen war eine Umschreibung für die Eiserne Jungfrau, ein Folter- und Hinrichtungsgerät, das vor dem Aufkommen der Guillotine verwendet wurde, mit silbernen Glocken waren Daumenschrauben gemeint und mit Herzmuscheln Klammern, die an den Genitalien angebracht wurden.
    Warum führen wir Worte im Mund, deren Sinn uns entgeht, grübelt Mary.
    Wieso fahren wir an Orte, die wir nicht kennen?
    Weshalb vertrauen wir Menschen, die dieses Vertrauen nicht verdient haben?
    Aus welchem Grund gehen wir völlig überflüssige Risiken ein?
    Und wieso begehen wir schwere Fehler und tun hinterher so, als könnte uns kein Wässerchen trüben?
    Mary, Mary.
    Du fehlbare Närrin.
     
    Wie gebannt starre ich auf das Poster des italienischen Tourismusverbandes an der Wand – eine Collage aus Bildern von atemberaubenden Stränden, Nuraghen und malerischen

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