Der Sommer der Frauen
reingehen. Wir sollten uns setzen.» Er streckte die Hand aus und half ihr aufs Boot. «Du wolltest mir auch etwas sagen? Dann du zuerst.»
June ging die drei Stufen in den Wohnbereich hinunter und drehte sich zu ihm um. «Ich habe ihn gefunden.»
Er starrte sie an und sagte schließlich: «Wen? Charlies Vater?»
Sie setzte sich in den großen Regiestuhl. «Ich bin im Netz auf ein altes Collegefoto von ihm und seiner Band gestoßen und habe eins der Mitglieder ausfindig gemacht. Der Typ konnte sich noch an den Namen der Straße erinnern, in der John aufgewachsen ist. So habe ich seine Eltern gefunden, na ja, jedenfalls Adresse und Telefonnummer.»
Henry starrte sie weiter an, fast so, als wüsste er, was als Nächstes käme.
«Ich habe angerufen und ihnen eine Nachricht aufs Band gesprochen. Ich habe gesagt, ich wäre eine alte Freundin von John, wir hätten uns damals während seiner Reise in New York kennengelernt und dass ich wahnsinnig gerne mit ihm in Kontakt treten würde. Sie haben noch nicht zurückgerufen, aber ich entwerfe gerade einen Brief. Ich kann ja schlecht einfach so sagen, dass –»
«June.»
June verstummte und sah ihn an. Eine Sekunde lang hielt Henry ihrem Blick stand, dann schloss er die Augen und holte hörbar Luft.
Sie stand auf. «Henry? Was ist los?»
Er drehte sich um und nahm ein gefaltetes Blatt Papier von seinem Schreibtisch. Er hielt es in der Hand, ohne es zu betrachten, und machte auch keine Anstalten, es ihr zu reichen. «Weißt du, auf einmal kam mir der Gedanke, es damit zu probieren, es nachzuprüfen, nur um auszuschließen – und, o Gott, June, es tut mir so leid!»
Er faltete das Blatt auseinander und reichte es ihr. Es war die Kopie einer Seite mit Todesanzeigen aus der
Bangor Daily News
. Eine der Anzeigen war datiert auf einen Tag im November vor sieben Jahren. Dem Tag, an dem sie und John an der
Angel of the Waters
-Statue im Central Park verabredet gewesen waren.
John Smith, 21 , aus Bangor, Maine, verstarb am 10 . November in New York City an Leukämie. Todkrank hatte John sich entschieden, sich seinen großen Traum zu erfüllen und in den Monaten, die ihm noch blieben, das Land zu bereisen, von den großen Metropolen zu den kleinsten Städten. John hinterlässt seine Eltern Eleanor und Steven Smith aus Bangor, Maine, seine Großeltern mütterlicherseits …
Es gab auch ein Foto. Da war es, direkt vor ihr, das Gesicht dieses schönen Mannes, das sie seit sieben Jahren mit sich herumtrug, die Züge, die ihr Tag für Tag im Gesicht ihres Sohnes wiederbegegneten.
Das unverwechselbare Lächeln von John Smith. June stolperte keuchend rücklings und spürte gerade noch die Kante des Stuhls hinter sich, ehe ihre Beine nachgaben. «Während ich ihn verflucht und die ganze Stadt nach ihm abgesucht habe, lag er keine zwei Kilometer weit weg tot in irgendeinem Krankenhaus!» Sie brach in Tränen aus.
«Es tut mir so leid, June!», flüsterte Henry. «Er hat dich nicht verlassen. Er wurde dir genommen.»
June weinte bitterlich. Heftige Schluchzer lösten sich irgendwo aus ihrem Innersten. Henry kniete sich vor sie hin und nahm ihre Hand, doch sie zog sie weg.
«Wieso hast du überhaupt in den Todesanzeigen gesucht?», schrie sie ihn an. «War es das, was du wolltest? Dass er tot ist?» Das war unfair, sie wusste es im gleichen Augenblick, als sie es ausgesprochen hatte, aber ihr Hirn war wie leergefegt. John Smith war tot. Und das schon die ganze Zeit.
«Nein, June», sagte Henry zärtlich. Ihm versagte fast die Stimme. «Ich habe da nachgesehen, weil es die einzig sinnvolle Erklärung dafür war, weshalb ein Mann dich verlassen sollte.»
June spürte, wie ihr das Herz brach. Sie rannte davon.
*****
Zurück in der Pension, stürmte sie gerade tränenüberströmt die Treppe hinauf, als Isabel auf Zehenspitzen aus Charlies Zimmer kam.
«Schläft tief und –» Isabel starrte June an. «Was ist passiert? June, was ist denn los?»
June war nicht in der Lage zu sprechen, sie konnte nur weinen. Sachte zog Isabel Charlies Tür hinter sich zu, nahm ihre Schwester in den Arm und führte sie hinauf in ihr Schlafzimmer. Sobald die Tür ins Schloss fiel, sank June heftig schluchzend zu Boden.
Isabel fiel vor ihr auf die Knie und schob ihr die tränennassen Locken aus dem Gesicht. «Was ist denn nur passiert?»
June hielt noch immer die Seite mit den Todesanzeigen umklammert. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie das Blatt Papier mitgenommen hatte. Sie schleuderte es
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