Der Sommer der Frauen
Veränderung.» Sie hatte sich knapp acht Zentimeter ihrer hellblonden Haare abschneiden lassen, sodass diese kaum noch die Schultern berührten. Und sie trug zum ersten Mal in ihrem Leben einen Pony, der ihr ein völlig neues Gefühl verlieh. Ein Gefühl, nach dem sie schon seit einiger Zeit auf der Suche gewesen war. Erwachsen, jenseits der fünfundzwanzig, was schließlich auch nicht mehr ganz jung war.
Lizzie stellte ihre riesige Handtasche auf einem Küchenstuhl ab. «Ich kann es nicht erwarten, endlich meine Entwürfe zu sehen!»
Kat führte sie zu dem Tisch am Fenster, das auf den großen Garten hinter dem Haus hinausging, wo Lolly und Pearl an einem der Gartentische saßen und ein Kartenspiel spielten, das verdächtig nach Poker aussah. Als Chips benutzten sie kleine Stückchen von Kats selbstgebackenen Cookies. Der Anblick brachte Kat zum Lächeln – und ließ sie einen Moment lang vergessen, dass die Stimmung in der Pension schon in wenigen Stunden mal wieder so sein würde wie während ihrer ganzen Jugend. Klaustrophobisch. Eng. Voll unterdrückter Wut.
Wie hatten sie es in diesem Haus zu viert nur ausgehalten, miteinander eingesperrt, während in den Gemeinschaftsräumen das ständige Kommen und Gehen von Gästen herrschte?
Als die beiden Nash-Schwestern bei ihnen eingezogen waren, hatte Lolly das große Dachzimmer mit dem romantischen Balkon, das vor dem Unfall das Elternschlafzimmer gewesen war, zum gemeinsamen Zimmer der drei Mädchen umfunktioniert, und sie selbst war in das einzelne Gästezimmer jenseits der Diele im Erdgeschoss gezogen. Sich auf einmal mit der dreizehnjährigen June und der sechzehnjährigen Isabel ein Zimmer teilen zu müssen, war für die zehnjährige Kat eine ziemlich harte Umstellung gewesen.
Während June und Isabel das klassische Klischee der braven und der wilden Schwester bedienten, hatte Kat sich zwischen den beiden ganz normal entwickelt. Nicht zu brav und nicht zu wild. Sondern ziemliches Mittelmaß. In jeder Beziehung. Zwischen der rebellischen Isabel und der klugen June mit ihren starken Persönlichkeiten hatte die stille Kat sich zurückgehalten und das Geschehen eher vom Rande her beobachtet, ohne wirklich zu verstehen, was sich vor ihren Augen abspielte, was sie da sah und hörte. Oder fühlte. Abgesehen von jenem dumpfen, schweren, stets präsenten Schmerz in der Mitte ihrer Brust, der sie daran erinnerte, dass ohne die Eltern ihrer Cousinen ihr eigener Vater – ihr wunderbarer, zuverlässiger Vater, der niemals trank, der auf Familienfeiern nie wild durch die Gegend tanzte, der sich auch nie ein paar Scheine leihen musste bis zum nächsten Zahltag – noch am Leben wäre. Ab und zu, nicht oft, war es vorgekommen, dass Kat von ihren Cousinen so überfordert war, davon, wie die beiden, sogar die nette June, sämtliches Leben aus einem Zimmer herauszusaugen vermochten, dass sie ihre Cousinen anbrüllte, ihnen ins Gesicht schrie, wie sehr sie sie hasste, dass sie genug hatte von ihnen, dass ihre Eltern Schuld daran waren, dass Kat keinen Vater mehr hatte und dass sie zusammenleben mussten.
Woraufhin June ihr dann leise schluchzend ein «Wenigstens hast du noch eine Mutter» entgegenschleuderte und tränenüberströmt davonlief. Doch das weitaus größere Unbehagen hatte ihr in diesen Situationen ihre Cousine Isabel mit ihrem eindringlichen Blick verschafft. Isabel, vor der Kat schon immer etwas Angst gehabt hatte, die sie dann nur unerwartet still ansah, Schuld und Unglück im Blick.
Fünfzehn Jahre lang waren sie einander, so gut sie konnten, aus dem Weg gegangen, und jetzt kamen ihre Cousinen zu
der großen Ankündigung
, hinter der alles Mögliche stecken konnte.
*****
Kat reichte Lizzie die Entwürfe und Computerausdrucke für ihre Hochzeitstorte. Lizzie heiratete im kommenden Mai. Und sie hatte Kat, die, seit die beiden sich in der Mittelstufe kennenlernten, ihre Freundschaft backend begleitet hatte, mit der Herstellung ihrer Hochzeitstorte beauftragt. Und nein, Lizzie wollte nichts davon hören, die Torte als Hochzeitsgeschenk zu akzeptieren, wofür Kat ihr besonders dankbar war.
Noch ein paar solche Aufträge, und sie konnte ihren eigenen Laden eröffnen:
Kats Kuchen & Konfekt
war bis jetzt lediglich ein Schriftzug auf selbstgemachten Etiketten, die ihre apricotfarbenen Kuchenkartons zierten.
«Mhm, vielleicht genehmige ich mir zuerst noch schnell eines von denen, ehe ich mir die Entwürfe ansehe», sagte Lizzie und beäugte das Blech mit den
Weitere Kostenlose Bücher