Der Sommer der Frauen
sie an Krebs erkrankt war und es gar nicht gut für sie aussah, stellte sich hier niemand. In ihrer Jugend hatten die drei Mädchen immer wieder die Geschichte zu hören bekommen, wie Lolly mit gerade mal achtzehn Jahren und untröstlich über den Tod einer Freundin, die bei einem Badeunfall ertrunken war, ins Kino gegangen war, um sich
Die durch die Hölle gehen
anzusehen. Sie hatte in der Zeitung einen Artikel über Meryl Streep – die mit Vornamen eigentlich Mary Louise hieß, genau wie Lolly – und ihren Verlobten gelesen, einen berühmten Schauspieler, der nach den Dreharbeiten an Knochenkrebs gestorben war. Und wie Lolly das erste Jahr nach dem Autounfall nur deshalb durchgestanden hatte, weil sie sich zwischendurch immer wieder in den größten Meryl-Streep-Schnulzen verlieren durfte. Und wie sie sich, als sie endlich wieder imstande war, eine Komödie zu ertragen,
Rendezvous im Jenseits
ausgeliehen und bei der Gelegenheit seit jener schrecklichen Neujahrsnacht zum ersten Mal wieder gelächelt, ja, sogar gelacht hatte.
Der Kinoabend war bereits seit Jahrzehnten feste Tradition in der Pension. Anfang der Neunziger hatte eine Dame, die zu Gast war, Lolly gefragt, ob sie einen Videorecorder hätte, weil sie sich gern einen Spielfilm nach Vorlage des Romans ausleihen würde, den sie gerade gelesen hatte:
Sophies Entscheidung
. Sie hatten den Film gemeinsam gesehen und einen so tollen Abend gehabt, dass Lolly sich von der Idee ihres Gastes inspirieren ließ: Sie hatte für den Aufenthaltsraum ein moderneres Gerät gekauft, den uralten Fernseher gegen einen fast doppelt so großen getauscht, den Bücherschrank mit ihren Lieblingsfilmen bestückt und gemeinsam mit Pearl den Freitagabend zum Kinoabend ausgerufen. Zuerst hatten sie abwechselnd den Film ausgesucht, doch irgendwann hatten sie sich für monatlich wechselnde Themen entschieden. Die vierziger Jahre. Robert De Niro. Rund ums Essen. Internationale Filme. Liebeskomödien. Sissy Spacek. Letzten Monat war John Travolta dran gewesen.
Der letzte Meryl-Streep-Monat hatte erst vor neun Monaten stattgefunden, und Isabel, die, wenn sie zu Besuch war, ab und zu am Kinoabend teilnahm, hatte sich zu Weihnachten von
Julie & Julia
bezaubern lassen. Es gab selten anschließende Diskussionen über die Filme, die sie sahen; Pearl schlief oft schon nach der ersten halben Stunde ein. Aber der freitägliche Kinoabend war nun mal eine Institution im Three Captains’ Inn, und im Aufenthaltsraum war eine ganze Wand ausschließlich Lollys Lieblingsschauspielern gewidmet. Dort hingen glänzende Schwarzweißfotografien in altmodischen Bilderrahmen. Von Meryl Streep gab es gleich drei Aufnahmen aus verschiedenen Dekaden. Außerdem hingen dort Clint Eastwood, Al Pacino und Sissy Spacek, eine weitere Lieblingsschauspielerin von Lolly. Tommy Lee Jones, Cher, Brad Pitt, Susan Sarandon, Kate Winslet und Keanu Reeves, den Lolly sexy fand. Schließlich Rachel McAdams und Emma Stone, junge Schauspielerinnen, die laut Lolly «das gewisse Etwas» hatten.
Isabel verstand gut, weshalb ihre Tante schon wieder einen Meryl-Streep-Monat ausgerufen hatte. Lolly behauptete immer, Meryl-Streep-Filme hätten in gewissen Situationen dieselbe Wirkung wie selbstgemachte Hühnerbrühe oder eine beste Freundin.
Ach, könnten sie doch auch Krebs heilen, dachte Isabel, als sie sich zu ihrer Schwester auf das kuschelige Zweiersofa setzte, jede Menge weicher Kissen im Rücken, und die Popcornschüssel vor sich auf die Fußbank stellte. Lolly und Pearl hatten es sich auf dem weißen Sofa bequem gemacht, Eistee, Wein, Törtchen und Popcorn in Reichweite auf dem alten Überseekoffer, der wahrscheinlich irgendwann mal aus den Tiefen des Atlantiks gefischt worden war und jetzt als Couchtisch diente. Kat saß auf einem riesigen geblümten Sitzsack zu Lollys Füßen und verknotete die langen roten Gummischnüre, die sie, daran erinnerte Isabel sich noch genau, schon als Kind vor dem Fernseher immer am liebsten genascht hatte. Zu ihnen hatte sich auch Carrie gesellt, etwa Mitte Dreißig und Hausgast in der Pension, deren Mann oben auf ihrem Zimmer ein Baseball-Spiel anschaute. Sie hatte es sich in dem hohen Ohrensessel bequem gemacht, einen Teller mit einem Törtchen und etwas Popcorn auf dem Schoß.
Lolly löschte die Deckenbeleuchtung und drückte den PLAY -Knopf der Fernbedienung des DVD -Spielers, den sie schon vor Jahren angeschafft hatte, genau wie den großen Flachbildfernseher.
Isabel verspürte den
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