Der Sommer der Frauen
endlich alle mit der Serviette auf dem Schoß um den großen, rechteckigen Bauerntisch versammelt saßen und die Schüssel mit den Nudeln die Runde machte, hatten Kat, June und Isabel mindestens fünf Minuten lang fragende Blicke und ratlos zuckende Achseln ausgetauscht. Schließlich fragte Kat: «Also, Mom, was hast du uns zu sagen?»
«Lasst uns bis nach dem Essen damit warten», entgegnete Lolly und trank einen Schluck Wein.
Isabel sah zu ihrer Tante hinüber. Lolly wartete immer, bis alle anderen zu essen hatten, ehe sie sich selber nahm. Doch selbst als alle Teller gefüllt waren, nahm Lolly sich lediglich etwas Salat und ein kleines Stück Brot.
Das Abendessen war die Wiederholung der Situation im Aufenthaltsraum. Normalerweise konnte man sich darauf verlassen, dass Lolly Redepausen füllte, indem sie ein oder zwei dröge Geschichten aus dem Stadtrat oder von ehemaligen Hausgästen erzählte, doch heute blieb sie stumm. June schob die mit Pesto vermischten Farfalle auf ihrem Teller herum. Kat warf ihrer Mutter besorgte Blicke zu. Und Isabel versuchte, die Bilder von Edward aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Aber sie konnte an nichts anderes denken.
«Und? Wie geht es Edward?», frage June und trank einen Schluck Wein.
«Super», sagte Isabel und spießte eine Kirschtomate auf. Sie fragte sich, was passieren würde, wenn sie einfach aufstand und sagte,
Wisst ihr was? Super war gelogen. Er hat eine Affäre mit einer anderen Frau, und ich habe ihn in flagranti erwischt und keine Ahnung, wie mein Leben jetzt weitergehen soll. Keine Ahnung, wer ich ohne Edward bin, genauso, wie du immer gesagt hast, June
. An diesem Tisch gab es niemanden, der Edward wirklich mochte. Früher hatten sie ihn schon gemocht. Aber Isabel schien die Einzige zu sein, die bis gestern nicht gemerkt hatte, wie sehr Edward sich verändert hatte.
Nach Kats zaghaftem Vorstoß unternahm keine von ihnen einen weiteren Versuch, Lolly zu bedrängen, ihnen endlich zu sagen, was los war. Sie hatten früh gelernt, dass Lolly, die größte Geheimniskrämerin der Welt, erst dann mit der Sprache rausrückte, wenn sie selbst dazu bereit war. Als sämtliche Gabeln schließlich auf den Tellern ruhten – schon zehn Minuten später, weil keine von ihnen viel Appetit hatte –, stand Lolly nervös auf, schaute in die Runde und setzte sich gleich wieder hin.
«Mom?», fragte Kat. «Geht es dir gut?»
«Nein», sagte Lolly, den Blick auf den Teller gesenkt. Sie schloss für einen Moment die Augen. Dann ließ sie den Blick um den Tisch wandern und sah sie eine nach der anderen fest an. «Ich habe euch etwas zu sagen. Das fällt mir wirklich nicht leicht. Ich … ich habe vor ein paar Tagen erfahren, dass ich Krebs habe. Bauchspeicheldrüsenkrebs.»
Kat sprang auf und warf dabei ihr Weinglas um. «
Was?
»
Lolly stellte das Glas wieder auf und griff nach Kats Hand. «Ich weiß, dass das ein Schock für euch ist, und ich weiß, wie schwer es ist, sich das jetzt anzuhören.» Sie holte tief Luft. «Es sieht nicht gut aus.»
In Isabels Kehle brannte es sauer, und hinter ihren Augenlidern lauerten die Tränen spitz wie Nadelstiche. Das konnte nicht wahr sein.
«Ich werde natürlich dagegen ankämpfen, aber der Krebs ist schon ziemlich weit fortgeschritten. Mit Chemotherapie lassen sich zwar die Symptome beherrschen und das Wachstum verlangsamen, aber –» Sie sah erst ihre Tochter an und dann quer über den Tisch auch June und Isabel. «Der widerliche Dreckskerl hat es vor der Diagnose bis zum Stadium IV geschafft. Ein fünftes Stadium gibt es nicht.»
Isabel spürte, wie sich in ihrem Magen eine Leere ausbreitete. Sie wollte aufstehen und um den Tisch herum zu Lolly hinübergehen, zu Kat, die sich die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Doch in dem Augenblick stand Lolly auf, entschuldigte sich für einen Moment und verließ die Küche.
«O mein Gott!», flüsterte Isabel. Kat und June saßen wie erstarrt da. Sie waren beide aschfahl im Gesicht.
Lolly kam mit dem verzierten Schokoladenkuchen aus der Speisekammer zurück und stellte ihn mitten auf den Tisch. «Vorhin stand ich in der Küche und sah diesen Kuchen an. Er stand zum Auskühlen am Fenster, und da habe ich angefangen zu weinen – und ihr wisst, dass ich nicht nah am Wasser gebaut bin. In dem Augenblick war ich mir doppelt sicher, dass es das Richtige war, euch zu bitten, heute Abend herzukommen. Ich wollte nicht, dass ihr beide es am Telefon erfahrt», sagte sie zu June und Isabel. «Und
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