Der Sommer der Frauen
Impuls, einfach in ihr Zimmer zu fliehen, doch dann fiel ihr ein, dass ja alle Zimmer belegt waren und sie bei Kat schlief. Genauso wie June. Hier konnte sie wenigstens gute zwei Stunden in Ruhe sitzen, ohne dass ihr jemand wegen Edwards Abwesenheit nervige Fragen stellte.
Und wenigstens würde sich jetzt keiner mehr fragen, was mit ihr los war. Schließlich hatte ihre Tante Krebs. Isabel warf June einen Blick zu; ihre Schwester war genauso den Tränen nahe wie sie selbst.
Isabel konnte kein Interesse für die Figuren aufbringen, die nach und nach den Bildschirm bevölkerten. Doch als ihr klarwurde, dass es um die erwachsenen Kinder einer Frau ging, die gerade gestorben war, kamen ihr die Tränen. Bruder und Schwester, beide Anfang vierzig, sehen in einem Bauernhaus in Iowa die Dinge ihrer Mutter durch. Durch einen Brief, den ihre Mutter ihnen hinterlassen hat, erfahren sie, dass es in deren Leben neben ihrem Vater noch einen anderen Mann gegeben hat.
Dann wird der Zuschauer in die Vergangenheit zurückversetzt. Meryl Streep als Hausfrau in Iowa, mit ihrem wunderschönen Gesicht, langen braunen Haaren und, wie man später erfährt, italienischer Herkunft, die sich von ihrem Ehemann und zwei Kindern im Teenageralter verabschiedet, weil diese auf eine viertägige Reise zu einem Landwirtschaftsmarkt aufbrechen. Dann tritt Clint Eastwood als Fotograf auf der Suche nach einer bestimmten, überdachten Brücke auf. Meryl Streep ist gerne bereit, ihm persönlich den Weg zu zeigen, weil er so schwer zu beschreiben ist.
Durch winzige Gesten und schlichte Fragen wird bald klar, dass Meryls Figur sich Hals über Kopf in den Mann verliebt, der in ihr die Erinnerung an jene Frau wachruft, die sie hätte sein können, und an das Leben, das sie hätte führen können. Als Clint sie bittet, Mann und Kinder zu verlassen und mit ihm zu gehen, um diese einmalige Liebe nicht zu verlieren, ist ihre erste Reaktion ein Ja.
Und dann ein Nein. Sie kann weder ihren Ehemann und ihre Kinder aufgeben noch ihre Liebe zu Clint.
Die Zerreißprobe kommt an dem Tag, als Clint die Stadt wieder verlässt. An einer roten Ampel sitzt Meryl neben ihrem Mann in ihrem alten Pick-up, vor ihnen Clints Laster. Meryl umklammert den Türgriff. Wenn sie mit ihm gehen will, ist das ihre Chance. Sie muss es jetzt tun, sofort, die letzte Möglichkeit ergreifen; die Autos tauschen und damit ihr ganzes Leben, sie muss nur die Autotür öffnen und aussteigen.
Isabel hielt den Atem an, während sie Meryl Streep dabei zusah, wie sie in Agonie die Hand um den Türgriff spannt.
Sie geht nicht
, dachte Isabel.
Sie tut es nicht.
Als in der Szene dann klarwird, dass sie es tatsächlich nicht tun würde, stieß Isabel den Atem aus.
Sobald der Abspann lief, stand Pearl auf und machte sich daran, die leeren Teller einzusammeln. «Ist das nicht ein großartiger Film? Ich habe ihn sicher schon dreimal gesehen, und mir kommt es immer wieder vor wie beim ersten Mal, obwohl ich weiß, wie er endet.»
«Meryl Streep ist eine unglaubliche Schauspielerin», sagte Carrie. «Ich glaube, so hübsch wie in
Die Brücken am Fluss
hat sie nie wieder ausgesehen.»
«Sie ist wirklich toll», sagte Kat, und Isabel und June nickten.
Lolly stand auf, drückte den Ausgabeknopf und legte die DVD in die Hülle zurück. «Das ist einer meiner absoluten Lieblingsfilme. Ich habe ihn auch schon dreimal gesehen, Pearl, und jedes Mal sehe und höre ich wieder etwas Neues.»
Lolly sah von Kat zu Isabel und dann zu June. «Ich bin froh, dass ihr da seid. Es war ein langer Tag, ich glaube, ich gehe ins Bett. Wir sehen uns morgen Früh in aller Frische – um halb sieben gibt’s Frühstück.»
Während Lolly und Pearl sich auf den Weg machten, sagte June: «Was? Keine Diskussion mehr? Ich bin wie erstarrt, so sehr hat mich Francescas Entscheidung erschüttert.»
«Ihre Entscheidung hat dich erschüttert? Du meinst, bei ihrer Familie zu bleiben?», fragte Isabel, und Lolly setzte sich wieder hin.
Sie winkten Pearl zum Abschied nach, deren Mann vor der Tür im Auto darauf wartete, sie abzuholen.
June griff nach einem Cupcake und biss hinein. «Sie hat sich selbst betrogen.»
Isabel starrte ihre Schwester an. «Sich selbst betrogen? Ach, und wenn sie gegangen wäre, hätte sie ihren Mann und ihre Kinder dann etwa nicht betrogen? Und auch kein Versprechen gebrochen? Schlimm genug, dass sie sich überhaupt von einem fremden Mann hat verführen lassen.»
«Also, das kann ich total gut
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