Der Sommer der Frauen
verabredet – sie wollte die Getränke mitbringen und er die Sandwiches. Und während sie dort in ihrem roten Kurzmantel und dem roten Schal auf der steinernen Bank gesessen hatte, zwei Flaschen Wasser und zwei Chocolate-Chip-Cookies aus ihrer Lieblingsbäckerei im Gepäck, da hatte sie gedacht, sie hätte endlich begriffen, wovon alle Welt sprach – wovon ihre Schwester Isabel ständig redete, sobald Edward zur Sprache kam, der damals noch nicht so schmierig war. So etwas hatte June noch nie für einen Mann empfunden, nach wie vielen Verabredungen auch immer. John war der Erste gewesen – und zwar in jeder Hinsicht.
Als er um ein Uhr immer noch nicht aufgetaucht war, hatte sie ihm sämtliche Ausreden zugestanden. Er hatte nicht die letzten drei Jahre in New York verbracht, so wie sie; vielleicht hatte er die falsche U-Bahn genommen oder sich im Park verlaufen. Aber während sie immer länger im kühlen Novemberwind saß, sich auf die Lippe biss und ihre Hände aneinander rieb, die trotz der Handschuhe immer kälter wurden, bis sie schließlich durchgefroren war, wurde ihr klar, dass er nicht kam. Er besaß zwar ein Prepaid-Handy aus dem Supermarkt, konnte aber nur anrufen und selbst keine Anrufe empfangen. Sie hatte also keine Nummer von ihm, und er hatte sie nicht angerufen. Nach zwei Stunden Warten war sie schließlich von der Bank aufgestanden. Als sie auf die Freitreppe zuging, dachte sie kurz, sie sähe ihn oben auf der Terrasse stehen, doch es war ein anderer, und ihr tat das Herz so weh, dass sie in Tränen ausbrach.
Jahrgangsbeste, ha! June war eine naive Einundzwanzigjährige gewesen, die an seinen Lippen gehangen und ihm jedes Wort geglaubt hatte und daran, dass es tatsächlich möglich war, sich so filmreif zu verlieben. Was für eine dumme Kuh sie gewesen war! Als sie dann merkte, dass sie schwanger war, versuchte sie, ihn ausfindig zu machen. Ging ein paar Wochen lang jeden Abend in die Bar, in der sie sich kennengelernt hatten. Umrundete den
Angel of the Waters
so oft, dass sie die Statue blind hätte malen können. Aber sie fand ihn nicht. Er war ein gutaussehender Typ, der durchs Land tingelte und wahrscheinlich eine Strichliste führte über die Mädels, die er in jedem Bundesstaat in die Kiste kriegte.
June Nash. Die brave der Nash-Schwestern, mit einundzwanzig geschwängert, noch vor dem letzten Semester. Sie schmiss ihr Studium, weil ihr morgens ständig so schlecht war, dass sie nicht aufstehen konnte, und es ihr emotional so dreckig ging, dass sie sich nicht darum gekümmert hatte, sich offiziell vom Unterricht abzumelden, wie ihre Tante Lolly es ihr geraten hatte. Als logische Folge hatte sie am Ende des Semesters ihre Scheine nicht beisammen, und sie kehrte auch nie wieder zurück, um ihren Abschluss nachzuholen. Wieder zu Hause, zurück bei Lolly – «Tja; was passiert ist, ist passiert» – fuhr sie in seine Heimatstadt Bangor und suchte dort nach einem John Smith, was natürlich völlig lächerlich war. Bangor war eine Großstadt und kein Dorf. Sie wurde, wenn auch freundlich, auf eine wilde Schnitzeljagd kreuz und quer durch die Stadt geschickt und begegnete dabei sieben verschiedenen John Smith, vom siebzigjährigen Friseur bis zum jungen Rechtsanwalt. Keiner war der richtige, keiner war mit ihm verwandt. Sie war sogar ins Sekretariat der Bangor High School gegangen und hatte darum gebeten, die Jahrbücher sehen zu dürfen. In seinem Abschlussjahrgang (falls er tatsächlich, wie er behauptet hatte, einundzwanzig war) gab es zwei John Smith, beide blond und beide eindeutig nicht er. Sie hatte auf dem Gang vor dem Sekretariat gesessen und die Jahrbücher von ein paar Jahren vor und ein paar Jahren nach seinem möglichen Abschlussjahrgang durchgesehen, bis ihr vor Verzweiflung die Tränen kamen und fremde Teenager sie neugierig anstarrten.
Sie hatte Henry Books erzählt, weshalb sie nach Hause zurückgekommen war und warum sie einen Job suchte, und er hatte ihr sofort Arbeit in der Buchhandlung gegeben, obwohl er überhaupt keine Verkäuferin brauchte. Henry war ein etwas spleeniger Eigenbrötler mit anstrengender Freundin, und für June war es in den ersten Monaten nach Charlies Geburt, als hätte ihn der Himmel geschickt. Henry gab ihr so oft frei, wie sie brauchte, erlaubte ihr, Charlie mit zur Arbeit zu nehmen, und schaukelte ihn auf seinem Schoß, wenn er unruhig wurde, was die weibliche Kundschaft entzückte und in jenem Sommer und Frühherbst spürbar das Geschäft belebte.
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