Der Sommer der Frauen
sicher Elvis. Der will mit mir Fangen spielen. Darf ich, Mom?»
Elvis war der Labrador aus dem Nachbarsgarten. Als June vor fünfzehn Jahren in die Pension gezogen war, war er noch ein winziger Welpe gewesen. Jetzt war er ein betagter Hundeherr, gutmütiger denn je, der es noch immer liebte, den Stöckchen nachzujagen.
«Aber schau bitte erst, ob es auch wirklich Elvis ist und nicht der Streuner, der gestern Abend auf einmal im Garten stand», sagte Isabel. «Als ich kurz ein bisschen frische Luft schnappen wollte, kam plötzlich ein weißer Köter mit schwarzen Ohren an und legte mir ganz zutraulich den Kopf auf die Füße. Er sah zwar harmlos aus, aber man weiß ja nie.»
Charlie rannte zur Tür und schob den Vorhang beiseite. «Nein. Das ist Elvis.»
«Na dann lauf, Süßer», sagte June. «Aber bleib im Garten, okay? Und vergiss nicht, es ist noch ziemlich früh. Also nicht so laut, ja?»
Sobald die Tür hinter ihm zugefallen war, sagte Lolly wie aus der Pistole geschossen: «Er ist schon so groß!», und June war klar, dass Lolly keine Fragen über ihre Diagnose hören wollte. Oder über ihr Befinden. Lolly sah heute wieder etwas mehr wie sie selbst aus. Sie trug ein schwarzes, ärmelloses Top, einen weißen Baumwollrock, der ihr bis auf die Knöchel ging, und ihre roten Flip-Flops mit dem Krabbenmuster. Das seidige, schulterlange Haar war zu dem vertrauten Zopf geflochten.
«Außerdem wird er von Tag zu Tag hübscher», sagte Kat, die die stumme Botschaft ihrer Mutter offensichtlich auch verstanden hatte. «Was für ein wunderbarer, süßer Kerl er ist. Eine echte Zuckerschnecke.»
«Er sieht aus wie sein Vater.» June starrte auf ihren Teller hinunter. Seit Charlie vor fünf Minuten angefangen hatte, von seinem Vater zu sprechen, schob sie lustlos das Rührei auf dem Teller herum. Der Stammbaum! «Wie soll ich nach sieben Jahren einen Mann finden, der den Allerweltsnamen John Smith trägt, und den ich schon damals nicht finden konnte?»
«Du kannst es nur versuchen.» Lolly trank einen Schluck Orangensaft. «Grenze deine Suche ein, so gut es eben geht. Und wenn du ihn nicht findest, dann wird Charlie das akzeptieren müssen.»
In June sträubte sich alles. Typisch Lolly. Akzeptieren, akzeptieren, akzeptieren. «Das ist doch ungerecht. Er muss akzeptieren, dass er vielleicht nie erfährt, wer sein Vater ist, dass er ihn nie kennenlernen wird, nur weil ich auf einen Typen reingefallen bin, der auf eine einfache Nummer aus war.»
«Nach dem, was du mir damals über John Smith erzählt hast», sagte Isabel und stocherte genau wie ihre Schwester in ihrem Rührei herum, «trifft ihn das aber nicht so ganz genau.»
June hätte das ja auch nie gedacht. Sie war so fasziniert davon gewesen, dass ein Mann mit dem häufigsten Namen der Vereinigten Staaten der originellste Typ sein konnte, dem sie je begegnet war. Sie hatten sich nur zweimal gesehen, und diese beiden Begegnungen waren unglaublich gewesen. Es war die Sorte Begegnung, wo man das Gefühl hat, auf der ganzen Welt gäbe es nur einen selbst und den anderen, wo man über alles redet, zusammen lacht, sich in die Augen sieht und plötzlich die absolut irrsinnige Gewissheit in sich spürt, das gefunden zu haben, wovon in all den Liebesliedern immer die Rede ist.
Sie hatten sich in einer Bar an der Upper West Side von Manhattan kennengelernt, in der Nähe der Columbia University. Sie war mit zwei Freundinnen unterwegs gewesen, und er hatte an der Bar gesessen und zufällig mitbekommen, dass sie von Maine erzählte, wo er ebenfalls herkam – aus Bangor, einer Stadt zwei Stunden nördlich von Portland. Sie waren ins Gespräch gekommen und hatten kein Ende mehr gefunden. Er hatte sich gerade ein Jahr Auszeit vom College genommen, um mit dem Rucksack kreuz und quer durchs Land zu reisen. Er sah sehr gut aus, beinahe göttlich, unglaublich blass, mit dunkelgrünen Augen und fast schwarzen Haaren. Sie hatte noch nie einen Mann gesehen, der so schön war wie John. Er wollte am nächsten Tag eigentlich weiter nach Pennsylvania und die Freiheitsglocke anschauen, aber er sagte, das würde er so lange verschieben, wie sie mit ihm ausging. Bei ihrem zweiten Date am darauffolgenden Abend hatte June, die noch Jungfrau war, erst sich selbst und dann ihm die Kleider vom Leib gerissen.
Und dann, ganz klischeehaft, hatte sie ihn nie wiedergesehen. Sie hatten sich für ein romantisches Picknick an der
Angel of the Waters
-Statue am Bethesda-Brunnen im Central Park
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