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Der Sommer der Frauen

Der Sommer der Frauen

Titel: Der Sommer der Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mia March
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Schulklassen zu Henry, um mit ihm über seine kuriosen Fundstücke zu sprechen.
    June lächelte der Verkäuferin zu, einer jungen Studentin, wie sie selbst es gewesen war, als sie damals bei Books Brothers angefangen hatte. «Ist Henry in seinem Büro?»
    Die junge Frau schüttelte den Kopf. «Draußen auf dem Hausboot.»
    June ging nach hinten, vorbei an Bestsellern, Biographien und Memoiren, an Büchern über Maine und Umgebung und an der Kinderecke, die Henry aus dem Aufbau eines alten Hummerfängers gebaut hatte. In dem Bullauge tauchte ein kleines Kindergesicht auf, und June lächelte. Sie öffnete eine Tür am Ende des Verkaufsbereichs, auf der ZUTRITT NUR FÜR ANGESTELLTE stand, und dann die nächste Tür, die direkt hinaus auf den Pier führte, an dem Henrys Hausboot vertäut lag. Henry kniete steuerbord an Deck, eine Schleifmaschine in der Hand, vor sich auf den Planken eine kleine Dose irgendwas.
    «Hey», sagte June und schob sich die Sonnenbrille auf den Kopf. «Macht sie wieder Ärger?»
    Er stand auf, lächelte sie an und kniff die blassbraunen Augen zusammen, genau wie Clint Eastwood. «Dieses Boot macht nie Ärger.»
    Von außen betrachtet sah Henrys Hausboot aus wie ein ganz normales, wenn auch etwas zu groß geratenes Motorboot. Ging man jedoch die Treppe hinunter, entpuppte es sich als gemütliche Wohnung mit zwei Schlafzimmern, Wohnzimmer, Einbauküche und Bad. Auch hier zierten neben seiner Kunstsammlung unzählige von Henrys Artefakten Wände und Stellflächen. Und ein Foto von Vanessa Gull, die mal seine Freundin war und dann wieder nicht, das ging seit Jahren hin und her. Die schöne Vanessa war die unfreundlichste Person auf Erden, was wahrscheinlich der Grund war, weswegen Henry sie mochte, vermutete June. Vanessa glaubte nicht ans Nettsein. Und Henry mochte kein falsches Getue. Das Hin und Her mit den beiden als Paar lief schon, seit June damals bei Books Brothers angefangen hatte. Eine Ewigkeit. Vor ein paar Jahren war June mit Charlie in den Ferien zu Besuch in der Stadt gewesen und mit ihm zum Boot gegangen, um Henry Hallo zu sagen, und Vanessa, die damals auch da gewesen war, hatte zu June gesagt: «Irgendwas stört mich an dir», hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und war mit ihrem Seidenkleid und ihren Harness-Boots abgezischt. Vanessa war genau wie Henry zehn Jahre älter als June und gab ihr immer das Gefühl, ein linkisches kleines Kind zu sein. Sie war froh, dass Vanessa jetzt nicht da war.
    «Ich bin gekommen, um offiziell dein Angebot anzunehmen», sagte sie. Sie hatte Henry gestern vor der Abfahrt aus Portland angerufen, und er hatte ihre Leidensgeschichte mit den Worten: «Ich weiß schon Bescheid. Wenn du willst, kannst du nächstes Wochenende hier anfangen. Gleiche Position, gleiches Gehalt», abgeschnitten.
    Sie hatte ihm geantwortet, sie wüsste noch nicht genau, was sie machen würde. Ob sie tatsächlich wieder in Boothbay Harbor leben könnte.
    «Seit du weggezogen bist, ist viel Wasser ins Meer geflossen, June», hatte er geantwortet. «Du kannst das wirklich alles hinter dir lassen. Der Job ist deiner, wenn du ihn willst, aber bitte sag mir dieses Wochenende Bescheid – nächstes Wochenende ist Labor Day, und ich brauche wen für den Ansturm. Zwing mich bitte nicht, Vanessa einzuspannen.»
    Sie hatte gelacht. Vanessa war ein einziges Mal für sie im Laden eingesprungen und hatte dabei drei Kunden vergrault, die sich hinterher bitterlich bei Henry und June beklagt hatten. Seitdem war Vanessa der Zutritt zum Laden verboten.
    «Schön», sagte er jetzt. «Wie wär’s, wenn du am Freitag vor dem Labor-Day-Wochenende anfängst? Dann hast du noch ein bisschen Zeit für deine Tante. Du wirst den Laden an den meisten Tagen allein schmeißen, Bean kommt an den Wochenenden und an den Feiertagen für die Kasse. Du und Charlie, ihr wohnt doch in der Pension, oder?» Sie hatte Henry von Lollys Krankheit erzählt, als sie Charlie tags zuvor nach dem Abendessen wieder bei ihm abgeholt hatte. Er hatte sie in die Arme geschlossen, sie ganz eng an sich gezogen und dafür gesorgt, dass für fünfzehn wunderbare Sekunden die ganze Welt verschwunden war.
    «Im Moment schon», sagte sie. «Wir werden sehen.»
    «Du weißt, dass ihr hier jederzeit willkommen seid, falls es euch da oben zu eng wird.»
    Gott, sie liebte Henry Books! Dieser Mann war ein Geschenk, war für sie wie der verständnisvolle, große Bruder, den sie nie hatte. Sie dachte viel an ihn; an seine treibholzbraunen Augen,

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