Der Sommer der Frauen
altes Kinderzimmer könnte mir ganz gut gefallen. Also, mein ganz altes Kinderzimmer, meine ich, bevor alles anders wurde.»
«Eigentlich kann ich es euch auch gleich sagen.» June holte sich ebenfalls eine Jogginghose und ein T-Shirt aus dem Koffer. «Ich bleibe auch mindestens ein paar Wochen. Ich habe gerade erfahren, dass Books Brothers die Filiale in Portland schließt. Und damit ist auch meine Wohnung futsch. Ich bin arbeitslos und heimatlos.» Arbeitslos, heimatlos und alleinerziehend. Erbärmlich!
«Du bist nicht heimatlos, June», sagte Kat. «Das hier ist dein Zuhause.»
June trat wieder an den Balkon und sah hinunter zum Hafen. Ihr Blick folgte einem mitternächtlichen Ausflugsboot auf seinem Weg über das dunkle Wasser. Das Three Captains’ Inn war nicht ihr Zuhause. June hatte fünf Jahre lang in der Pension gelebt, hier, in diesem Zimmer, und es hatte sich nie wie ein Zuhause angefühlt. Doch sie hatte nicht vor, Kat das zu erzählen. «Ich bin wirklich unschlagbar, oder? Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass ich mit eingeklemmtem Schwanz hierher zurückkomme. Ich werde Henrys Jobangebot bei Books Brothers in Boothbay annehmen müssen. Jetzt stehe ich haargenau wieder da, wo ich vor sieben Jahren war.»
«Örtlich betrachtet, vielleicht», sagte Kat. «Aber dieselbe bist du doch ganz sicher nicht mehr. Du hast in Portland gelebt. Meisterst ein Leben als alleinerziehende Mutter. Und für Charlie bist du tatsächlich unschlagbar.»
June betrachtete seufzend den Sternenhimmel. Sie würde nie vergessen, wie sie genau an dieser Stelle gestanden hatte, einundzwanzig Jahre alt und schwanger, der Kindsvater unauffindbar, ihre geliebten Eltern tot, ihre große Schwester hunderte Kilometer weit weg. Aber an Isabel hätte sie sich sowieso nicht gewandt.
«June, hast du je darüber nachgedacht, das Kind nicht zu bekommen, als du erfahren hast, dass du schwanger bist?», wollte Isabel plötzlich wissen.
June fuhr zu ihrer Schwester herum. «Was soll das denn schon wieder heißen? Dass ich Charlie nicht hätte kriegen sollen, dass ich hätte abtreiben sollen? Willst du mir jetzt sagen, wie verantwortungslos es von mir war, ein Kind in die Welt zu setzen, was sich jetzt mal wieder beweist, weil ich keinen Job und kein Dach mehr über dem Kopf habe?»
Isabel war rot angelaufen. «Nein, Gott, June! So habe ich das überhaupt nicht gemeint. Ich habe nur gefragt, weil …» Isabel biss sich auf die Lippe.
«Weil?», schnauzte June und starrte ihre Schwester böse an.
«Vergiss es. Wir sollten alle langsam schlafen gehen.»
«
Weil?
», wiederholte June mit Nachdruck.
Isabel senkte den Blick und drehte ihren Ehering am Finger. «Weil ich immer geglaubt habe, ich würde niemals einem Kind eine Mutter sein können, eine gute Mutter, meine ich, und ich habe mich nur gefragt, ob du dir damals, als du schwanger warst, solche Sorgen auch gemacht hast.»
«Oh», sagte June, und der ganze Zorn und die wohlbekannte alte Scham waren augenblicklich verraucht. «Natürlich. Ich war erst einundzwanzig und noch auf dem College. Eben noch war die größte Sorge, die ich kannte, wie ich eine erfolgreiche Semesterarbeit über
Middlemarch
abliefern sollte, und auf einmal würde ich bald die Verantwortung für ein Kind haben. Ganz allein. Aber weißt du was? Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich eine gute Mutter sein würde. Dabei geht es um Liebe und darum, sich gut um das Baby zu kümmern und zu tun, was eben zu tun ist. Ich habe nie daran gezweifelt, das zu können. Ich hatte nur einfach große Angst.»
Und sie hatte – zumindest eine kleine Weile – überlebt, indem sie sich in eine Traumwelt flüchtete und darauf wartete, dass John Smith sie finden und erretten würde. Als sie vor sieben Jahren nach Boothbay Harbor zurückgekommen war, schwanger und immer mit einer Packung Cracker in der Tasche, hatte sie stundenlang hier draußen auf diesem Balkon gesessen und sich vorgestellt, wie John den Kiesweg heraufkam, auf ein Knie niedersank und sie bat, ihn zu heiraten, während sie, in leuchtendes Mondlicht gebadet, vor ihm stand. Doch er war nie gekommen. Wohin auch immer er, der unabhängige Reisende auf der Suche, gegangen war, er hatte sie nicht dabeihaben wollen, hatte sie nicht gebeten, ihn auf seine Reise zu begleiten, im Gegensatz zu Clint Eastwoods Figur. Weil
Die Brücken am Fluss
ein Film war, ein Liebesfilm, und mit dem echten Leben nichts zu tun hatte.
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