Der Sommer der Frauen
um die sich, wenn er lächelte, kleine Falten zeigten wie bei Clint Eastwood. An sein dichtes, dunkles, glattes Haar, das ihm von einem Wirbel über der Stirn immer auf die linke Augenbraue fiel. An seine große, muskulöse Statur. Daran, dass er ein echter Mainer Kerl war, durch und durch, ein Mann der See, und gleichzeitig mit beiden Beinen fest auf der Erde stand.
Als sie damals für ihn arbeitete, hatte Henry sie wie die verstörte einundzwanzigjährige Schwangere behandelt, die sie ja auch gewesen war, wie ein Kind, das sich in eine unmögliche Situation manövriert hat, und nicht wie eine erwachsene Frau. Also hatte June sich sämtliche romantischen Ideen in Bezug auf Henry Books aus dem Kopf geschlagen. Außerdem war sie damals zuerst hochschwanger und dann mit einem winzigen Baby beschäftigt gewesen, und Henry war entweder draußen auf dem Wasser oder in den Fängen von Vanessa. Die Frau erinnerte June an Angelina Jolie während ihrer Ehe mit Billy Bob Thornton. Wilde, dunkle Mähne, jede Menge Kajal, unbarmherzige Sinnlichkeit. Da konnte June Nash, von oben bis unten voll mit Babyspucke und mit Lederclogs an den Füßen, nicht mithalten.
«Vielen Dank noch mal, dass du dich gestern Abend um Charlie gekümmert hast», sagte June. «Er ist ganz verrückt nach diesem Boot. Und das Muschelsuchen mit dir fand er großartig.»
«Er ist ein toller Junge», sagte Henry, und June wusste, dass er es so meinte. Sie spürte ein kleines bisschen Stolz in sich aufwallen, ein zaghaftes Gefühl von
Ich habe etwas richtig gemacht
.
«Und jetzt geh dich um deine Tante und um deine Familie kümmern», sagte er. «Wir sehen uns Freitag, und dann besprechen wir alles, was sich hier verändert hat oder was wir hier anders machen als in Portland. Und bitte richte Lolly aus, sie braucht mich nur anzurufen, wenn ich irgendwie helfen kann.»
«Aye, aye, Captain», sagte June, schob sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase und ging über den Pier zurück. Sechs freie Tage für Charlie und um in der Pension zu helfen, perfekt.
«Ach, June?», rief Henry ihr nach. Sie drehte sich um. «Und falls
du
irgendwas brauchst, du weißt ja, wo du mich finden kannst.»
Sie nickte lächelnd. Sie hatte zwar nicht viel, aber sie hatte Charlie und sie hatte Henry Books. Und so wie die Dinge sich gestern Abend und heute Morgen entwickelt hatten, hatte sie vielleicht sogar ihre Familie zurück.
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6. Kat
A m späten Sonntagnachmittag überließ Kat sich dem Fahrtwind, der ihr schmeichelnd durchs Haar fuhr – das immer noch leicht nach Schokolade und Glasur duftete von dem Geburtstagskuchen, den sie vorhin gebacken hatte –, während Oliver sie mit seinem Cabriolet an einen «geheimen Ort» brachte. Sie waren auf dem Weg zur anderen Seite der Halbinsel. Er hatte eine Überraschung für sie. Mehr war aus ihm nicht herauszukriegen. Der Wind fühlte sich gut an, wehte alles andere fort, vor allen Dingen die Gedanken. Sie beobachtete die Ausflugsboote auf dem graublauen Meer, die Touristen, die aufgeregt die Arme ausstreckten, wenn sich endlich ein Wal zeigte. Kat fühlte sich innerlich wie betäubt, und sie war froh, einfach nur im Wagen sitzen zu dürfen und sich ganz aufs Meer und auf das Geräusch der wechselnden Gänge konzentrieren zu können.
Sie entdeckte blaue Kuchenglasur unter ihrem Daumennagel – sie hatte nicht mal mehr Zeit gehabt zu duschen oder sich auch nur die Hände zu waschen. Während sie den Piratenschiffkuchen zum fünften Geburtstag von Kapitän Alex gebacken hatte, hatte ihre Mutter Isabel in die Kunst eingeführt, eine Frühstückspension zu managen. «Wenn ein Gast nach dir ruft, lässt du alles andere stehen und liegen und siehst nach ihm, ganz gleich, ob du gerade beim Mittagessen sitzt oder telefonierst. Wenn dir im Vorbeigehen irgendetwas ins Auge fällt, Unordnung oder Schmutz, sei es Sand auf dem Boden oder eine benutzte Tasse, dann kümmerst du dich sofort darum.»
Zwischen den Anweisungen mussten immer wieder Gäste begrüßt, Fragen zur Umgebung beantwortet, der Weg zum botanischen Garten beschrieben und außerdem die Frage diskutiert werden, ob man, wenn man nur noch einen einzigen Ferientag hatte, lieber nach Portland oder besser rauf nach Rockland und Camden fahren sollte. Die Stimme ihrer Mutter klang selbstsicher und fest wie immer, und eine kurze Weile ging Kat so darin auf, die perfekte Kommandobrücke für ihr Piratenschiff zu bauen, dass sie Wörter
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