Der Sommer der Frauen
genügt hatten, sich zu verlieben. Dieser Teil war für June nur allzu realistisch gewesen. Sie hatte, um sich in John Smith zu verlieben, nur zwei Tage gebraucht.
«Ich versuche gerade, mir vorzustellen, wie es wäre, jetzt ein Kind zu bekommen, und ich bin fünfundzwanzig, June, vier Jahre älter als du damals», sagte Kat. «Ich wäre auf keinen Fall bereit für so viel Verantwortung. Ich ziehe meinen Hut vor dir.»
«Ich auch», sagte Isabel.
June sah die beiden an. Diese Anteilnahme war neu und berührte sie. Sie kramte in ihrem Kosmetikbeutel nach der Bodylotion, und Lilienduft erfüllte das Zimmer, als sie sich die trockenen Ellbogen und Knie eincremte.
«Das war sicher ganz schön schwer für dich», sagte Isabel und legte sich in ihr Bett. «Ich weiß, ich weiß, jetzt sagst du gleich wieder, wie herablassend das klingt. Aber was ich damit sagen will, mir ist auf einmal klar, wie allein du dich gefühlt haben musst. Weil … weil ich jetzt weiß, wie sich das anfühlt. Nicht, dass ich meine Situation mit der einer jungen alleinerziehenden Mutter vergleichen möchte – aber du weißt, was ich meine, oder? June, es – es tut mir leid, dass ich überhaupt nicht für dich da gewesen bin.»
June sah zu ihrer Schwester hinüber. Isabel lag auf dem Rücken, den Blick zur Decke gerichtet. Es stimmte. Sie warf ihr tatsächlich immer Überheblichkeit vor. «Ich bin froh, dass du jetzt da bist», sagte sie.
Isabel lächelte schief und knipste ihre Nachttischlampe aus. «Also dann. Gute Nacht.»
«Gute Nacht», antwortete Kat und machte die Deckenbeleuchtung aus.
«Ich gehe nur noch mal kurz nach Charlie sehen», sagte June und stieg wieder aus dem Bett. Erst, als sie auf dem dämmrig beleuchteten Flur stand, merkte sie, dass sie schon wieder die Luft angehalten hatte.
Am nächsten Morgen saßen sie alle gemeinsam in der Küche um den großen Esstisch versammelt. Die Morgensonne flutete den Raum. Es war erst halb sieben. Lolly hatte June und Isabel daran erinnert, dass das Frühstück der Gäste von sieben bis halb neun im Speisezimmer vorgesehen war und die Familie deshalb vorher frühstücken musste. Außerdem hatte sie die beiden ermahnt, in Charlies Gegenwart das K-Wort zu vermeiden, bis Lolly und June entschieden hatten, wann und wie sie es ihm beibringen würden.
June kaute auf einer Scheibe Frühstücksspeck und bestrich Charlies frischgebackenen Maismuffin mit Butter. Das Herz war ihr schwer. Ihr Sohn hatte so gut wie keine Familie. Und jetzt würde er auch noch seine Großtante verlieren.
«Wisst ihr was?» Charlie sah mit strahlenden Augen in die Runde. «Meine Mom sucht meinen Dad und meine Großeltern für mich, damit ich meinen Stammbaum ausfüllen kann! Den mache ich für unser Projekt in der Ferienbetreuung. Mittwoch soll er fertig sein.»
Alle Augen richteten sich auf June.
«Mom, kannst du bis Mittwoch überhaupt schon irgendwas rausfinden? Das sind ja nur noch vier Tage!»
Junes Magen verkrampfte sich. «Na ja, Süßer, bis Mittwoch habe ich vielleicht doch noch nichts über die Vaterseite von deinem Baum herausgefunden, aber wir können jetzt alle zusammen helfen, um meine Seite vollzumachen, und dann schreiben wir deiner Betreuerin einen Brief und erklären ihr, dass wir an der anderen Seite dran sind.» Und dass Charlie danach sowieso nicht mehr da sein würde. Sie hatte vor, am Wochenende mit Charlie über den Umzug zu sprechen.
«Aber dann kriege ich bestimmt eine sechs für meinen Baum!», rief Charlie, und die Hand mit dem Muffin verharrte auf halbem Wege zum Mund in der Luft.
June kamen fast die Tränen.
«Also erstens gibt es in der Ferienbetreuung keine Noten», sagte Isabel. «Ferienbetreuung ist definitiv nicht Schule. Und zweitens ist jede Familie anders, Charlie», fügte sie hinzu und sah ihren Neffen zärtlich an. «Oder? Bei einem Stammbaum gibt es keine falschen Antworten. In manchen Familien gibt es ganz viele Verwandte, und in anderen nur ein paar. Und du hast ganz schön Glück, weil du uns alle hier in einem Raum versammelt hast.»
Danke, Isabel.
June fing den Blick ihrer Schwester ein und strahlte sie quer über den Tisch stumm an.
«Genau», sagte Kat. «Du hast uns. Und wir haben dich alle lieb.»
Mit einem Grinsen zählte Charlie die Menschen um den Tisch. «Also: Ich habe Großtante Lolly und Tante Isabel und Kat – und meine Mom. Das sind schon vier verschiedene Verwandte für den Baum.»
Draußen bellte ein Hund, und Charlie sprang auf. «Das ist
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