Der Sommer der Frauen
Und als das Zusammenleben mit Lolly im Three Captains’ Inn beziehungsweise das Leben in Boothbay Harbor generell für June unerträglich wurde, wechselte sie mit ihrem Baby, mit dem kläglichen Rest des Geldes für ihre Ausbildung und Lollys «Du schaffst das schon, und wenn du willst, kannst du immer zurück nach Hause kommen. Das weißt du» in die Filiale nach Portland.
Ja, das hatte June gewusst. Und genau das machte Lolly Weller zu einer so widersprüchlichen Person. Sie wirkte gleichzeitig gefühlskalt und voller Herz. Dass Menschen kompliziert waren, gehörte zu den ersten Lektionen, die June vom Leben gelernt hatte.
June schlang die Hände um ihre Kaffeetasse. «Er hat mich bei unserem dritten Date sitzenlassen. Nachdem er bekommen hatte, was er wollte.»
Weil es daran nichts zu leugnen gab, aßen sie alle stumm weiter. Vielmehr, sie stocherten auf ihren Tellern herum.
«Könnte natürlich passieren, dass du in ein Wespennest stichst», sagte Lolly. «Ich mache dir wirklich keine Vorwürfe, aber du hast den Jungen damals offensichtlich nicht gekannt. Du weißt also nicht, was für ein Mensch er tatsächlich ist.»
Eine Mischung aus Wut und Scham traf June in den Magen wie ein Fausthieb. Scham, weil sie so offen als dumm hingestellt wurde. Und weil sie wirklich so dumm gewesen war. Wut auf ihre Tante, weil die nichts verstanden hatte. Noch nie. June hatte John Smith während jener beiden Tage wirklich gekannt. Als sie damals vor sieben Jahren versucht hatte, Lolly zu erklären, wie sehr sie sich verliebt hatte, so sehr, dass sie sich heute mühelos in die Figur von Meryl Streep in
Die Brücken am Fluss
hineinversetzen konnte, hatte Lolly geantwortet, dass es nicht möglich war, jemanden nach zwei Tagen wirklich zu lieben – ganz zu schweigen davon, ihn wirklich zu kennen. «Tja», hatte ihre Tante hinzugefügt. «Das hast du ja inzwischen selbst herausgefunden.»
Zu behaupten, ihre Tante Lolly sei ihr in jenen Tagen im frühen Stadium der Schwangerschaft kein allzu großer Trost gewesen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Aber Lolly war wenigstens da gewesen. Und sie hatte sich um June gekümmert, bis diese, als Charlie knapp ein Jahr alt war, nach Portland zog. Dafür war June ihrer Tante dankbar, und für noch viel mehr. Aber Lolly war definitiv nicht der mütterliche Typ, von ihr bekam man keine Umarmungen und auch kein Mitgefühl. Lolly war, wer sie war, und June hatte das schon vor langer Zeit akzeptiert. Natürlich war das auch ein Grund dafür, dass June nicht eben oft «nach Hause» kam. Aber die Vorstellung, Lolly zu verlieren …
Daran durfte sie nicht mal denken.
«Ich helfe dir, ihn zu finden», sagte Isabel und berührte flüchtig ihre Hand.
June sah Isabel an. Ihre Schwester überraschte sie schon wieder.
«Ich auch», sagte Kat.
June erwartete, dass auch Lolly irgendetwas sagen würde, dass sie ihr Glück wünschte,
irgendwas eben
, aber sie tat es nicht.
*****
Versteckt hinter ihrer großen, schwarzen Sonnenbrille, um von alten Klassenkameraden unentdeckt zu bleiben, schlängelte sich June durch die Touristenmassen auf der Townsend Avenue. Von dort aus bog sie in die Harbor Lane ab, die kleine Kopfsteinpflastergasse mit ihren Lieblingsgeschäften. Das niedliche kleine Moon Tea Emporium mit seinen fünf runden Tischen und der fröhlichen gelben Inneneinrichtung, der winzige Laden der Hellseherin und Handleserin, die zwar immer sehr einfühlsam, aber eher selten auch hellsichtig war, das Souvenirgeschäft, das schon seit Generationen am selben Fleck stand, die Eingangsstufen mit originellen Keramikwaren wie Gießkannen in Leuchtturmform dekoriert, und natürlich, an der Stirnseite am Ende der Gasse, Books Brothers.
June drückte die Eingangstür mit dem roten Knauf in Form eines Kanus auf und fing, wie immer, wenn sie den Laden betrat, unwillkürlich an zu lächeln. Es war, als würde man ein verzaubertes, mit Bücherregalen gesäumtes und mit Bambusmatten ausgelegtes Wohnzimmer betreten. Bequeme, abgewetzte Lesesessel und gemütliche Überwürfe luden dazu ein, sich mit einem Buch zum Schmökern hinzusetzen, und unzählige Artefakte an den Wänden und auf jedem freien Platz in den Regalen erzählten Geschichten von allen möglichen Abenteuern auf See. Über einem der Regale hing ein altes, rotes Kanu. Über einem anderen eine Fotoserie eines Fotografen aus Boothbay Harbor. Die Buchhandlung galt an Wandertagen als beliebtes Ausflugsziel, und viele Lehrer führten ganze
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