Der Sommer der Frauen
eigenartig Überdrüssiges und gleichzeitig etwas unglaublich Freundliches. Außerdem sah er gut aus. Sehr gut sogar. Irgendwo in den Dreißigern, vermutete Isabel. Er hatte dunkle, gewellte Haare, dunkle Augen und trug zu der olivgrünen Hose ein blaues Henley-T-Shirt. Und einen Ehering.
«Ich hoffe, das Zimmer gefällt Ihnen», sagte sie, weil ihr gerade wieder einfiel, dass sie ja als Gastgeberin vor ihm stand. «Wenn Sie oder Ihre Töchter irgendetwas brauchen, lassen Sie es mich bitte wissen.»
«Danke. Meine Große hat in der kleinen Kammer geschlafen, die gegenüber von unserem Zimmer liegt. Ich hoffe, das ist okay. Als ich mitbekam, dass sie sich rausgeschlichen und da drüben eingenistet hatte, war sie schon völlig weggetreten auf dem kleinen Sofa.»
Isabel lächelte. «Kein Problem. In das Kämmerchen haben wir uns als Teenager auch immer verzogen, wenn wir mal allein sein wollten, meine Schwester, meine Cousine und ich. Ich kann es also gut verstehen.»
«Sind Sie alle zusammen hier aufgewachsen?»
Sie nickte und wollte schon wieder losplappern – lag es daran, dass er so attraktiv war? –, als der Hund sich über Lollys Tulpen hermachte. Isabel eilte zu ihm. «Nein, Hund! Aus, pfui, aus!» Doch der Hund hörte nicht auf sie. Er riss mit dem Maul eine Tulpe aus und stellte sich schwanzwedelnd vor Isabel auf.
«Er mag Sie wirklich!», sagte Griffin lachend. «Ich könnte dabei helfen, ihn ein bisschen zu trainieren, wenn Sie möchten. Ich bin Tierarzt.» Er angelte eine Karte aus der Hosentasche.
GRIFFIN DEAN * TIERARZT
BOOTHBAY HARBOR * MAINE
«Das wäre toll», sagte sie. «Danke. Boothbay Harbor? Da sind Sie aber nicht weit verreist.» Seine Praxis lag direkt am Hafen, gleich bei Books Brothers um die Ecke.
«Wir mussten unbedingt mal zu Hause raus, auch wenn es nur ein paar Kilometer sind. Die Pension gehört zu den wenigen Orten, die –» Anstatt den Satz zu beenden, ging er vor dem Hund in die Hocke und kraulte ihn. Bei der Gelegenheit merkte Isabel, dass er den schmalen, goldenen Ring an der
rechten
Hand trug – nicht an der linken. «Ich glaube, ich muss mal nach den Mädchen sehen. Alexa würde bis mittags schlafen, wenn ich sie ließe, aber Emmy malt inzwischen sicher die Tapeten an … War ein Witz!»
Er kraulte dem Hund noch einmal kräftig das Fell. «Ich werde nachher ein bisschen mit ihm arbeiten.»
Griffin Dean lächelte ihr zu und ging ins Haus. Isabel wäre ihm gerne nachgegangen, um ihn zu bitten, seinen Satz zu beenden.
… gehört zu den wenigen Orten, die …
Aber das war natürlich unmöglich.
*****
Im Coastal General Hospital roch es wie in allen Krankenhäusern. Nach Desinfektionsmittel. Nach einer Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung. Lolly hatte ein Einzelzimmer auf der Onkologie. Der zuständige Assistenzarzt erwartete sie bereits. Die Ärzte hatten schon bei der Diagnose ein ausführliches Aufklärungsgespräch mit ihr geführt, Lolly wusste also, was sie erwartete – im Gegensatz zu Isabel und Kat. Ehe sie ins Krankenhaus aufbrachen, hatten die beiden Cousinen lange am Küchentisch gesessen und darüber geredet, wie wenig sie über Krebs wussten. Und über Chemotherapie. Wie sie wirkte. Und warum. Kat war den Tränen nahe gewesen, und Isabel hatte plötzlich gespürt, wie sie wie von selbst die Kraft ihrer Erfahrungen als Trauerbegleiterin mobilisierte. Sie konnte Kat beruhigen, und gemeinsam war es ihnen gelungen, für Lolly stark zu sein (mit anderen Worten, keine von beiden war zusammengebrochen), während Lolly still im Wagen saß und zum Fenster hinaussah.
Kat bat den Assistenzarzt, ihnen alles ganz genau zu erklären, mit ihnen zu sprechen wie mit Zwölfjährigen, und sie waren beide dankbar für seinen verständnisvollen Tonfall und die mitfühlende Haltung, die er an den Tag legte – vor allem, als eine Schwester kam und Lolly für die Infusion vorbereitete. Die Behandlung würde etwa vier Stunden dauern. Im Abstand von jeweils drei Wochen würde das Prozedere noch zweimal wiederholt, und dann würde der Therapieplan, falls nötig, angeglichen werden.
Sobald Lolly bequem auf dem roten Liegesessel lag und die Infusion ihre Arbeit tat, verließ die Schwester, nachdem sie Lolly gebeten hatte, sie jederzeit zu rufen, sollte sie etwas brauchen, den Raum, und auch der junge Arzt entschuldigte sich. Kat ging ihm nach. Isabel war klar, dass Kat jede Menge Fragen an ihn hatte – Fragen, die sie ihm im Beisein ihrer Mutter nicht stellen
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