Der Sommer der Frauen
«Schau doch nur, dieser Koffer ist in Indonesien gewesen! Auf Bali! Und in Australien!» Isabel erinnerte sich noch daran, wie ihre Mutter die Augen schloss und sagte: «Gott, ich würde so gern mal ein Känguru sehen! Du nicht, Isabel?» Und Isabel, obwohl in der übelsten Antiphase, die obligatorischen Kopfhörer auf den Ohren, ganz gegen ihre Art ausnahmsweise leise gestellt, hatte geantwortet: «Ja, stimmt. Ein Känguru würde ich auch gern mal sehen.» Ihre Mutter hatte sich mit Triumph in der Stimme an ihren Vater gewandt: «Siehst du? Sogar Isabel gefällt die Vorstellung von hüpfenden Kängurus.» Das hatte gesessen, dieses «sogar Isabel», aber sie hatte es wahrscheinlich nicht anders verdient. Ständig war sie wegen irgendetwas sauer oder beleidigt, wegen ihrem Zapfenstreich, den sie nie einhielt, oder wegen den Hausregeln, die ihr auch völlig egal waren.
Sie waren nie in Australien gewesen, hatten nie ein Känguru gesehen, aber zu ihrem sechzehnten Geburtstag hatte ihre Mutter ihr ein silbernes Armkettchen mit einem winzigen silbernen Känguru geschenkt, und Isabel hatte es jahrelang getragen, ohne es auch nur einmal abzulegen, sogar zu ihrer Hochzeit. «Es passt wunderbar zu deinem Kleid», hatte Edward ihr vor dem Altar fast ehrfürchtig ins Ohr geflüstert. «Es ist, als wäre sie hier.»
Isabel schloss die Augen und versuchte, die Erinnerungen auszublenden, und zwar beide. Und noch eine dritte, die Erinnerung an einen Tag vor zwei Jahren, als sie irgendwo bei Starbucks saß, gerade einen Schluck Cappuccino trinken wollte und merkte, dass das Armband weg war. Weg! Panisch hatte sie versucht, sämtliche ihrer Schritte zurückzuverfolgen, hatte den Barista sogar überredet, ihr Zugang zum Abfall zu gewähren, um ihn gründlich zu durchwühlen, doch sie fand das Armkettchen nicht wieder. Nicht auf dem Parkplatz, nicht in ihrem Auto und auch sonst nirgends, wo sie an diesem Tag gewesen war. Sie hatte Zettel aufgehängt, eine Belohnung versprochen, aber es hatte sich nie jemand gemeldet.
«Ich würde diese Tagebücher gerne noch mal lesen», sagte Lolly. Sie trank ein Schlückchen Tee und knabberte an ihrem Muffin. «Weißt du? Um meine Schwester bei mir zu haben, ihre Stimme zu hören.»
«Ich suche sie heute Abend», versprach Isabel. Doch selbst lesen würde sie die Tagebücher auf keinen Fall. Zwischen Notizen über Hummerrezepte und Flohmarktfunde hatte ihre Mutter sich mit Sicherheit auch darüber ausgelassen, wie fürchterlich Isabel sich gegenüber ihren Eltern benommen hatte. «Du machst uns kaputt», hatte ihre Mutter ein paar Monate vor ihrem Tod zu Isabel gesagt. Isabel sah keinen Grund, sich das anzutun.
Lolly sah Isabel forschend an. «Ich weiß, dass es zwischen dir und deiner Mutter Spannungen gab. Aber vielleicht liest du diese Tagebücher auch einmal. Es ist wichtig, die Wahrheit über gewisse Dinge zu kennen, anstatt nur die eigene Vorstellung davon. Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt, Isabel. Wochen? Monate? Keine Ahnung. Auf einmal kommt mir das alles so bescheuert vor, diese Spannungen, diese Entfremdung, eine Familie, in der nicht miteinander gesprochen wird, wo man einander wie Fremde behandelt. Ich weiß, dass das auch meine Schuld war. Aber es ist falsch.»
Isabel stand vor dem Fenster und starrte hinaus zu dem großen Baum, der sich gegen den strahlend blauen Himmel abhob. «Ich will mich nicht daran erinnern, wie ich damals war.»
«Die Tagebücher deiner Mutter werden dir nicht vorhalten, wer du damals warst. Sie werden dir sagen, wer deine Mutter war, was sie dachte. Wirklich dachte. Nicht was sie deiner Meinung nach dachte. Und auch nicht, wer du deiner Meinung nach in ihren Augen gewesen bist. Es gibt viel, was du nicht über deine Mutter weißt, Isabel.»
Isabel stieß hörbar Luft aus. Sie wollte die Tagebücher ihrer Mutter nicht lesen, und sie wusste, dass sie es nicht tun würde. Im Augenblick ging es in ihrem Leben drunter und drüber, und vielleicht genügte schon der Anblick der gleichmäßig geschwungenen Handschrift ihrer Mutter, um Isabel endgültig über den Rand zu stoßen. Doch andererseits lag hier ihre Tante, eine Nadel im Arm, durch die Gift in ihren Körper lief, mit Tränen in den Augen. Also ergriff Isabel ihre Hand, hielt sie fest und versprach ihr noch einmal, nach den Tagebüchern zu suchen.
Es hatte Stunden gedauert, bis Isabel sich überwinden konnte, die Kellertür am Ende des kurzen Flurs zwischen Küche und Hintertreppe
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