Der Sommer der Frauen
wollte.
«Isabel, würdest du mir bitte eine Kanne Kamillentee besorgen gehen?», bat Lolly. Auf dem Beistelltisch lagen bequem erreichbar diverse Zeitschriften, die Kat mitgebracht hatte – von
People
bis
Coastal Inn
– und die beiden Romane, die June bei Books Brothers besorgt hatte. Daneben standen ein Krug Wasser und ein Glas. «Ich komme zurecht.»
«Natürlich!» Isabel war dankbar für die Möglichkeit, kurz Luft zu holen. Und genau das tat sie auch, tief Atem holen, in dem Moment, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Ein Stückchen den Gang hinunter stand Kat ins Gespräch vertieft mit dem geduldigen jungen Onkologen, an dessen klangvollen italienischen Namen Isabel sich plötzlich nicht mehr erinnern konnte. Sie hörte ihn sanft und verständig mit Kat sprechen, und seine Worte hallten in Isabels Schädel wider.
Den Verlauf verlangsamen. Inoperabel. Metastasiert. Gemictabin. Standardzytostatikum in der Chemotherapie. Symptome lindern …
Er erklärte, dass die Medikamente nicht in der Lage waren, gute Zellen von Krebszellen zu unterscheiden und deshalb alle schnellwachsenden Zellen angriffen, was der Grund dafür war, dass Chemopatienten oft unter Haarausfall litten, weil die Haarwurzelzellen nun mal zu den am schnellsten wachsenden Körperzellen gehörten. Isabel musste an Lollys seidiges, graublondes Haar denken, an ihre langen Wimpern und die geschwungenen Augenbrauen, und sie kniff einen Moment lang die Augen zu, als könnte sie die Bilder in ihrem Kopf dadurch verschwinden lassen. Dann unterbrach sie Kat und den Arzt, weil sie die Worte nicht mehr ertragen konnte, und fragte, ob sie noch etwas aus der Cafeteria mitbringen sollte. Beide lehnten dankend ab und nahmen das Gespräch wieder auf. Zellen. Weiße Blutkörperchen. Thrombozyten. Krebs. Krebs. Krebs.
Als die Aufzugtüren sich im vierten Stock öffneten und jemand den Lift verließ, fiel Isabels Blick auf den Wegweiser an der Wand: LABOR – KREISSSAAL – SÄUGLINGSSTATION . Ehe sie sich’s versah, war sie ebenfalls ausgestiegen und folgte der Beschilderung, bis sie sich vor der Glasscheibe zur Säuglingsstation wiederfand. Es war Monate her, seit sie sich in dem Krankenhaus in Connecticut zuletzt gestattet hatte, die Neugeborenen zu besuchen.
Sie starrte auf ihren Ehering. Letzte Nacht waren, als sie um drei Uhr morgens immer noch wachgelegen hatte, all ihre Schutzwälle zusammengebrochen, und sie hatte Edward zu Hause auf dem Festnetz angerufen, ohne einen blassen Schimmer, was sie sagen sollte. Vielleicht, um ihm von Lolly zu erzählen. Sie hatte sich so sehr nach seiner Stimme gesehnt, trotz allem. Er war sofort am Telefon gewesen und hatte dann «warte kurz» gesagt, offensichtlich, um den Apparat zu wechseln. Bestimmt hatte Carolyn Chenowith neben ihm im Bett gelegen. Isabel hatte schon auflegen wollen, als er wieder dran war. «Ich bin da.» Einen Augenblick lang war sie unfähig gewesen zu sprechen.
«Du machst das also wirklich», war schließlich alles, was sie herausbrachte.
«Es tut mir leid, Izzy.» Er hatte geweint.
Und war dann ebenfalls verstummt. Die Sekunden waren tickend verstrichen, und schließlich hatte Isabel BEENDEN gedrückt, das Telefon in ihre Handtasche gleiten lassen und sich nach draußen auf den Balkon gesetzt. Ihr schmerzendes Herz hätte ihr beinahe den Brustkasten gesprengt, und sie hatte mit tiefen, ächzenden Zügen nach Atem gerungen.
Dann drängte sich die Erinnerung an einen Augenblick in ihr Bewusstsein, in dem ein Stück ihrer Liebe zu ihm erloschen war. Sie hatte hart daran gearbeitet, es zu verdrängen, doch jetzt war ihr diese schreckliche Erinnerung ein willkommener Trost.
Vor ein paar Monaten waren sie und Edward mal wieder bei einer dieser fürchterlichen Kanzleiveranstaltungen gewesen, ein Abendessen im Kreise der Partner und ihrer Frauen. Laute Anekdoten, teurer Scotch und protzige Zigarren, Isabel wäre am liebsten davongerannt. Einer der Seniorpartner hatte zu Edward gesagt: «Na, und wann fangen Sie und Ihre Holde endlich mit der Familienplanung an? Falls Sie auch drei Kinder wollen, sollten Sie langsam mal loslegen.» Und Edward hatte sich vorgebeugt und mit gespielter Ernsthaftigkeit geraunt: «Wir hätten ja am liebsten vier, aber leider kann Isabel keine bekommen.»
Diese Lüge hatte ihr sprichwörtlich die Beine unter dem Körper weggezogen. Sie hatte mit zitternden Knien den Raum verlassen müssen, was das allgemeine Mitgefühl für die bedauernswerte Isabel
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