Der Sommer der Frauen
fiel.
Die
Vorstellung
von John war glasklar, doch die Besonderheiten seiner Gesichtszüge hatten begonnen zu verblassen. June wurde wieder von dem altvertrauten hohlen Verlustgefühl ergriffen.
Vielleicht hatte er inzwischen tatsächlich Familie. Vielleicht hatte er keine Lust auf schlechte Nachrichten aus der Vergangenheit. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Sie würde John Smith finden. Für Charlie. Was sie selbst und ihre Liebe betraf, das hatte sie sowieso schon längst aufgegeben. Aber den Traum ihres Sohnes würde sie nicht aufgeben.
Bean kam über den Steg auf sie zugeeilt. «Ich störe euch beide ja nur ungern in eurer Mittagspause, aber gerade ist eine ganze Busladung Touristen angekommen, und im Laden stehen locker dreißig Leute.»
Sie sammelten ihren Müll und die Flaschen ein, und während sie zurück zum Hintereingang von Books Brothers gingen, legte Henry June den Arm um die Schulter. Einen besseren Trost gab es auf der ganzen Welt nicht.
*****
Als June abends um halb neun die Pension betrat, stieg ihr augenblicklich der Duft von Popcorn in die Nase. In der Buchhandlung war den ganzen Tag so viel zu tun gewesen, dass sie den Kinoabend völlig vergessen hatte.
«Da bist du ja», sagte Lolly und stellte eine Vase mit frischen Blumen auf den Tisch in der Eingangshalle. «Wie war dein erster Tag im Laden?»
«Viel zu tun. Die Leute haben sich alle mit Urlaubslektüre eingedeckt.» Und als Sahnehäubchen hat Marley Mathers Pauline Altman die Meinung gegeigt. Bei der Erinnerung an diese Szene musste June lächeln. Bis ihr wieder einfiel, dass Marley in diesem Augenblick wahrscheinlich alleine zu Hause hockte und sich Sorgen machte oder
Das große Buch zur Schwangerschaft
las, ohne mit irgendjemandem darüber reden zu können. Sie musste unbedingt Marleys Telefonnummer rausfinden.
«Komm doch bitte einen Moment mit mir ins Büro, ja?»
Oh-oh! June hoffte, das hatte nichts Schlimmes zu bedeuten. June wusste, wie müde Lolly in den letzten Tagen gewesen war. Die Chemotherapie hatte sie sehr erschöpft. Heute Morgen hatte Isabel beim Bettenmachen auf Lollys Kopfkissen ein paar Haarsträhnen gefunden, und obwohl Lollys Augen genauso strahlten wie immer, hatte sie dunkle Ringe darunter und ihre Wangen waren unnatürlich gerötet.
June folgte Lolly in das kleine, quadratische Büro. Die Wände waren geschmückt mit unzähligen Fotografien der Pension, die den Lauf der Zeit seit der Erbauung des Hauses in Schwarzweiß und in Farbe dokumentierten. Dazwischen hingen Familienfotos. Generationen von Nashes und Wellers. June konnte den Blick nicht von einem Foto von Lolly mit Siebziger-Jahre-Frisur und Bikini wenden. Lolly, jung und strahlend und gesund. Wie ging das Sprichwort noch mal?
Manche Tage vergehen in Jahren und manche Jahre in Sekunden.
«Lolly, ist alles in Ordnung? Hast du Nachricht vom Arzt?»
Lolly schloss die Tür. «Nein, nein, es hat nichts damit zu tun. Ich dachte nur, ich frage dich besser vorher … Pearl hat sich für heute Abend
Mamma Mia!
ausgesucht, weil der Film so gute Laune macht, aber wenn du meinst, dass dir das Thema im Augenblick vielleicht zu nahegeht, dann suchen wir einfach was anderes aus.
Wenn Liebe so einfach wäre
zum Beispiel.»
Mamma Mia!
? June hatte den Film nicht gesehen, aber sie hatte davon gehört. Meryl Streep als alleinerziehende Mutter, die mit ihrer einundzwanzig Jahre alten Tochter in einem herrlichen alten Haus in Griechenland lebt. Die Tochter, verlobt mit ihrem jungen Beau, hat nie erfahren, wer ihr Vater ist, und lädt nun heimlich drei mögliche Kandidaten zu ihrer Hochzeit ein, von denen sie aus dem Tagebuch ihrer Mutter erfahren hat, in der Hoffnung, dass sie auf diesem Weg die Wahrheit herausfindet.
June konnte sich nicht erinnern, ob der Plan aufgeht oder nicht.
«Wie lieb von dir, dass du dir Gedanken machst, Tante Lolly», sagte June und gab ihr einen Wangenkuss. «Aber das ist kein Problem für mich. Vielleicht kann ich ja sogar noch was über Detektivarbeit lernen dabei oder wie man wenigstens
einen
Typen ausfindig macht.» Sie hatte eigentlich vorgehabt, den Abend vor dem PC zu verbringen und weiter nach den John Smiths dieser Welt zu forschen, in der Hoffnung, dabei auf die Nadel im Heuhaufen zu stoßen, auf irgendetwas, das sich mit dem Mann von damals in Verbindung bringen ließ, aber ein Film, der sie für eine Weile die Welt um sich herum vergessen lassen konnte, klang nach einer sehr verlockenden Alternative.
Lolly ergriff Junes
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