Der Sommer der Frauen
Minuten. «Weißt du, ich bin gerade auf der Suche nach Charlies Vater. Ich habe keine Ahnung, wohin mich das führen wird.»
Henry nahm einen tiefen Schluck aus seiner Flasche. «Charlie hat mir beim Muschelsammeln von seinem Stammbaumprojekt erzählt.»
Sie machte endlich dem Seufzer Platz, der ihr schon seit gestern Abend zwischen den Rippen klemmte. «Als ich ihm erzählt habe, dass wir vorerst hierbleiben werden und er auch nicht zurück in die Ferienbetreuung geht, war Charlie erleichtert, weil er seinen lückenhaften Stammbaum nicht präsentieren muss. Dann hat er das Plakat über seinem Bett an die Wand geklebt», sagte sie, und bei der Erinnerung daran zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. «Als ich ihn gestern Abend ins Bett brachte, fragte er mich mit riesengroßen, hoffnungsvollen Augen, ob ich schon irgendwas über seinen Vater rausgefunden hätte.»
«Und?»
Sie schüttelte den Kopf. «Meine Recherchen laufen absolut ins Nichts.»
Seit sie und Charlie nach Boothbay Harbor gekommen waren, war eine ganze Woche vergangen, und June war, was John Smith betraf, genauso schlau wie damals vor sieben Jahren, als sie das erste Mal nach ihm gesucht hatte. Als sie neulich abends
Der Teufel trägt Prada
sahen, war June fürchterlich sentimental und wehmütig geworden – die Aufnahmen von New York, von Orten, an denen sie auch gewesen war, hatten sie vor allen Dingen an jenen November erinnert, als sie John kennenlernte, und an den Januar darauf, als sie schwanger und auf der verzweifelten Suche nach ihm zurück ans College gegangen war. Sie war direkt im Anschluss an die Diskussion über den Film nach oben gegangen und hatte über eine Stunde im Internet verbracht, sich Fotos vom Central Park angesehen, von der
Angel of the Waters
-Statue. Dabei waren die alten Gefühle wieder hochgekommen, die Liebe, die sie für John empfunden hatte, all die Hoffnung und die Sehnsucht, die sie in sich verspürt hatte.
Ehe sie Schluss machte und zu Bett ging, hatte sie noch einmal nach Charlie gesehen, und sein Anblick hatte June mit Nachdruck ihr Versprechen ins Gedächtnis gerufen, seinen Vater zu finden. Sie hatte sich Vorwürfe gemacht, weil sie statt John zu suchen in Erinnerungen geschwelgt hatte, sich in die Vergangenheit, in eine Phantasiewelt geflüchtet hatte, und sie war sofort noch einmal zurück an den Computer gegangen, hatte sämtliche Highschools in Bangor, Maine, gegoogelt und sich durch diverse Ehemaligenbilder geklickt. Doch keiner der John Smiths, über die sie dabei stolperte, war der, den sie suchte. Entweder sie waren hellblond oder rothaarig oder hatten Gesichter, die nicht mal annähernd so schön waren wie das von Charlies Vater. Diese leuchtend grünen Augen, der dunkle Haarschopf. Sie würde ihn überall wiedererkennen. Auf den Seiten, durch die sie sich geklickt hatte, war er jedenfalls nicht dabei. Gestern war Isabel sogar mit der Idee angekommen, er sei vielleicht zu Hause unterrichtet worden. Und Kat hatte hinzugefügt, dass er auch auf einem Internat gewesen sein könnte. Sie hatten versucht, ihr Mut zu machen, ihr einzureden, dass sie die Suche nicht aufgeben durfte, nur weil er in keinem Bangor-Jahrbuch auftauchte.
June ließ das Sandwich sinken. Ihr war der Appetit vergangen. «Gestern Abend hat Charlie mir erzählt, was er und sein Vater alles zusammen machen könnten. Angeln und Muscheln sammeln und Zelten gehen. Auf dem Jahrmarkt die allergefährlichsten Karussells nur für die großen Kinder fahren. Was für einen verträumten Gesichtsausdruck er kurz vor dem Einschlafen hatte! Aber dann hat er die Augen noch mal aufgeschlagen und gesagt: ‹Mom? Was, wenn mein Dad gar nicht mein Dad sein will, weil er schon eine Familie und andere Kinder hat?›»
Henry ergriff ihre Hand und hielt sie fest. «Und da hast du gesagt: ‹Charlie, mein Junge, mach dir da mal keine Sorgen. Das kann gar nicht sein, weil es niemanden gibt, der dich nicht wunderbar findet, wenn er dich erst mal kennengelernt hat.›»
June sah Henry an. Ach, könnte sie sich doch einfach in seine Arme werfen und sich von ihm halten lassen. «Genau das! Mein Gott, Henry, du wirst mal ein toller Vater sein!»
Er lächelte. «Ich? Kann schon sein. Irgendwann mal.»
Henry und ein, zwei Kinder? Jederzeit! Die Vorstellung war nicht schwer. Angeln und Muscheln sammeln und Jagd auf Strandschnecken und Seesterne machen. Mit Sohn und Tochter durch die Wälder streifen. Aber John Smith, verheiratet und ein, zwei Kinder? Nein. In
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