Der Sommer der Frauen
ihrer Vorstellung war John Smith immer irgendwie unterwegs, auf Reisen, mit dem Rucksack auf dem Rücken und einer Landkarte in der Hand. Der Typ, der nie zur Ruhe kam.
Aber sie hatte sich inzwischen so oft getäuscht, da konnte sie ebenso gut den Gedanken zulassen, dass er auch Familie haben könnte. Und sich überhaupt nicht für einen sieben Jahre alten Jungen interessierte, von dem er noch nie etwas gehört hatte. Dem Ergebnis eines Two-Night-Stands auf der Durchreise in New York City.
Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter. Was, wenn sie John Smith fand, obwohl er gar keinen Wert darauf legte, gefunden zu werden? Was, wenn das Charlie noch mehr verletzte, als seinen Vater nicht zu kennen?
Könnte sein, dass du in ein Wespennest stichst …
Könnte sein, dass Tante Lolly recht hatte. June wollte Charlie trotzdem auf keinen Fall dazu erziehen, sich von Vorbehalten, Zweifeln und Angst leiten zu lassen. Sie würde seinen Vater finden, und was dann dabei herauskam, war eben … das Leben. Vielleicht würde John Smith sie erblicken, in Zeitlupe auf sie zugelaufen kommen, sagen, er hätte sie in den vergangenen sieben Jahren jeden einzelnen Tag gesucht und in Jubel ausbrechen, weil er ein Kind hatte, einen Sohn.
Auch das war möglich.
«Irgendwann muss ich wahrscheinlich einfach loslassen», sagte sie zu Henry. «
Akzeptieren lernen
, wie Tante Lolly sagt. Wahrscheinlich hat sie recht, auch wenn ich es nicht wahrhaben will.»
«Na ja, aber an dem Punkt bist du jetzt noch nicht, June. Im Augenblick suchst du ihn, und das aus gutem Grund. Wenn ich kann, dann helfe ich dir.» Er legte seine Hand auf ihre und schenkte ihr dieses typische, beruhigende Henry-Lächeln, und für einen kurzen Moment fühlte June sich um sieben Jahre zurückversetzt. Damals hatte sie sich oft dabei ertappt, ihn wie hypnotisiert anzustarren, ohne überhaupt mitzubekommen, was er gerade sagte.
«Du hast doch gesagt, er wäre aufs Colby College gegangen. Lass uns bei Gelegenheit doch mal zusammen hinfahren. Sehen, ob wir die Adresse seiner Eltern rausfinden. Damals sind wahrscheinlich hundert Typen namens John Smith gleichzeitig aufs Colby gegangen – aber ich vermute mal, dass nicht mehr als einer oder maximal zwei aus Bangor, Maine, stammten.»
Sie erzählte ihm, wie sie genau das vor Jahren bereits telefonisch versucht hatte, und zwar vergeblich («Wir geben prinzipiell keinerlei persönliche Daten über unsere Studenten heraus, es sei denn, sie haben beim Ausscheiden ausdrücklich ihre Genehmigung … es tut uns fürchterlich leid …»). «Und als ich es bei Google mit
John Smith
und
Colby
und
Bangor
versucht habe, kamen 329 000 Treffer!»
«Vielleicht gibt es irgendwas, eine winzige Kleinigkeit, die du vergessen hattest und die deiner Suche eine neue Richtung geben könnte.» Henry biss in sein Sandwich und verscheuchte mit der Hand eine wunderschöne Libelle.
Kat und Isabel hatten vor ein paar Tagen etwas ganz Ähnliches gesagt. Dass es vielleicht ein Detail gäbe, an das June bis jetzt einfach nicht gedacht hatte. Isabel hatte vorgeschlagen, June sollte ihnen die beiden Nächte mit John in allen Einzelheiten schildern, weil sie dann vielleicht ganz spontan auf eine Idee kommen würden.
Also hatten die drei am Küchentisch gesessen, Eistee getrunken und Blaubeermuffins gegessen, während draußen im Garten die Grillen zirpten und June ihre Liebesgeschichte bis ins kleinste Detail vor ihnen ausbreitete. Wie sie sich gefühlt hatte, als sie merkte, dass dieser gutaussehende Typ sie ansah – süß, eindringlich, interessiert. Wie sie über Maine geredet hatten. Darüber, dass er bei einer Lesung mal Stephen King die Hand geschüttelt hatte. Wie er ihr sagte, wie unglaublich schön sie sei – der einzige Mann, der je so etwas zu ihr gesagt hatte. Sie hatte sein Gesicht beschrieben, seinen Körper, lang und sehnig wie der eines Baseballspielers, und hatte registriert, dass Isabel sich etwas notierte. Doch June war auch aufgefallen, dass sie John nicht mehr so deutlich vor Augen hatte wie früher. Sie hatte sich immer ganz genau an die smaragdgrüne Schattierung seiner Augen erinnern können und an die Anordnung der Leberflecken auf seinem rechten Oberschenkel, die aussahen wie der Große Wagen. Aber neuerdings vermischten sich die Einzelheiten mit Charlies niedlichem Gesicht. Mit Charlies smaragdgrünen Augen. Mit Charlies Leberflecken. Mit Charlies dunklem, dichtem Haarschopf, der ihm genauso in die Stirn
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