Der Sommer der Frauen
schwanger und allein zu sein», fügte June flüsternd hinzu.
«Ich weiß. Deshalb habe ich – danke für das Buch», raunte Marley und rannte plötzlich hinaus.
June eilte ihr nach. Sie öffnete die Tür und blickte sich suchend um. Doch draußen auf der Straße herrschte ein solches Gedränge, dass sie Marley nirgends mehr entdecken konnte. Sie ging ins Lager, um Bean zu bitten, nach dem Laden zu sehen, während sie endlich zu Henry nach hinten ging. Ein paar Minuten mit Mr. Books genügten normalerweise, um so gut wie alles wiedergutzumachen.
*****
Henry saß vor seinem Mac und ging Bestellungen durch. Neben ihm auf dem Schreibtisch stand eine gefaltete weiße Tüte, aus der es köstlich duftete. «Da bist du ja. Ich hoffe nur, es ist inzwischen nicht kalt geworden.» Er hielt ihr die Tüte hin. «Kommst du mit raus auf den Steg?»
Sie lächelte, gab Bean Bescheid, dass sie eine kleine Mittagspause machen würde, und trat mit Henry hinaus in den gleißenden Sonnenschein. Carrie hatte nicht gelogen. Henry war tatsächlich ein heißer Typ. Es reichte, einfach schon neben ihm herzugehen, um sich seiner unglaublichen Präsenz bewusst zu werden: June registrierte unwillkürlich seine Größe, die muskulöse Figur, zur Geltung gebracht von einer abgewetzten Jeans und einem lässigen weißen Hemd mit bis zu den Ellbogen aufgerollten Ärmeln. Die braunen Haare, die sich in der leichten Brise im Nacken bewegten und ihm über die Stirn wehten.
June war plötzlich froh, dass sie heute Morgen zufällig ein wenig mehr Zeit als üblich auf ihr Aussehen verwandt hatte. Normalerweise trug auch sie Jeans und weiße Hemden und dazu ihre allgegenwärtigen weinroten Dansko-Clogs. Heute jedoch hatte sie sich ausnahmsweise mal für ein hübsches Baumwollkleid entschieden, für die Geschäftsführerin einer Buchhandlung am zweitumsatzstärksten Wochenende der Touristensaison die, wie sie fand, ideale Mischung aus Professionalität und Lässigkeit. Als sie am Morgen in den Laden gekommen war, hatte Henry zu ihr gesagt, wie hübsch sie sei. Aus der Art, wie er sie dabei angesehen und seinen Blick einen Moment länger als notwendig auf ihr hatte ruhen lassen, hatte June geschlossen, dass Henry Books vielleicht doch nicht mehr das einundzwanzigjährige Mädchen in ihr sah, das in Schwierigkeiten steckte.
Sie spazierten über den Steg, an dem sein Boot festgemacht war. Dann blieb Henry stehen, rollte die Hosenbeine bis zu den Knien hoch, setzte sich hin und streckte die langen Beine in das blaue Wasser. June schlenkerte die Sandalen von den Füßen und tat es ihm nach. Die Septembersonne legte sich schmeichelnd auf ihre Schultern. Henry packte zwei Sandwiches mit geräuchertem Schellfisch, Remouladensoße und Salatgarnitur aus, dazu eine Portion köstlich fettiger Pommes frites, ein kleines Töpfchen Ketchup und zwei Flaschen hausgemachter Limonade.
«Das hast du für mich besorgt?», fragte June ungläubig.
«Eigentlich war es für Vanessa, aber sie hat mir gesagt, ich soll es doch, O-Ton, an meine ‹geliebten Scheißschwertfische› verfüttern, und dann den Hörer aufgeknallt.»
June sah ihn an. «Ärger im Paradies?»
«Ach, bei uns herrscht ständig Ärger», sagte er kopfschüttelnd. «Früher haben wir uns allerdings schneller wieder versöhnt, aber in letzter Zeit – und ich meine damit das ganze letzte
Jahr
– streiten wir eigentlich nur noch. Irgendwas hat sich verändert, weißt du?»
«Weiß nicht, ob ich das weiß. Meine einzige große Liebe hat bekanntlich gerade mal zwei Tage gehalten. In so kurzer Zeit kann sich kaum was verändern. Wahrscheinlich hat von Anfang an was gefehlt. Für ihn, meine ich.»
Henry sah sie an, die dunkelbraunen Augen gegen die Sonne zusammengekniffen. «Und seitdem?»
«Na ja, als Charlie noch ganz klein war, hatte ich keine Zeit, mich mit jemandem zu treffen. Später in Portland gab es schon ab und zu das eine oder andere Date. Freunde von deinem Bruder. Hin und wieder mal ein Kunde, der Elektriker, der mir eine kaputte Leitung repariert hat. Jaspers Anwalt. Mein Liebesleben erstreckte sich von einem einmaligen Rendezvous bis hin zu einer zweieinhalbmonatigen Beinahe-Beziehung.»
«Vielleicht warst du einfach nicht verliebt. Den Kerl, der das Herz von June Nash erobert, würde ich gerne kennenlernen. Das müsste schon ein ziemlich cooler Typ sein.»
June lächelte. Henry hatte ihr schon immer das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Im Gegensatz zu Pauline Altman vor fünf
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