Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
fünfzehn gewesen waren. Schon damals war Jane eine feine junge Dame gewesen, aber inzwischen musste sie zu einem atemberaubenden Geschöpf geworden sein – mit ihrer untadeligen Erziehung, den elegantesten Kleidern und den Festen, die sie in London feierte. Und sie selbst? Grundgütiger, sie war niemals weiter als bis nach Manchester gekommen und … oh, was Jane wohl zu der neuen Frisur sagen würde? Vermutlich war sie zu schlicht und gar nicht der Rede wert …
»Der Duke und seine Tochter wollen sich also für eine Weile hierher zurückziehen«, sagte sie. Endlich geschah in Reston etwas, worüber zu reden sich lohnte!
»Aber nein, Miss«, fing Minnie wieder an, und Victoria stand vor Verwirrung der Mund offen.
»Aber du hast doch gerade gesagt …«
»Ja, Miss, aber ich meinte … die Familie reist an. Die ganze Familie.«
Aber … das hieß …
Jason.
Die Minze war vergessen … achtlos zu Boden geworfen, als Victoria ihre nunmehr durchweichten Röcke anlupfte – weit über die Fußknöchel und ganz und gar nicht nach der Art einer Lady, wie Minnie dachte – und in Richtung Haus rannte.
»Michael, Joshua!«, rief Victoria ihren beiden jüngeren Brüdern zu, die unter dem großen Apfelbaum nahe des Hauses Kegel spielten. »Lauft los und holt Mutter aus der Pfarrei! Auf der Stelle!«
Die Jungen (die es gewohnt waren, dass ihre große Schwester mit ihnen schimpfte, allerdings nur selten so panisch) rannten zum Gartentor, das zur Straße führte; aber Michaels schmutzige Hand hatte den Riegel noch nicht berührt, als das Tor von außen schwungvoll aufgestoßen wurde.
»Guten Tag, Dr. Berridge«, grüßten die Jungen, verbeugten sich flüchtig und schossen durch das Tor an dem Besucher vorbei in Richtung Dorf davon.
»Was um alles in der Welt …«, rief Dr. Berridge den Jungen nach und wandte sich wieder zum Garten der Wiltons … aus dem ihm Miss Victoria Wilton entgegengerannt kam, als hätten ihre Röcke Feuer gefangen.
»Oh, Dr. Berridge!« Victoria knickste und bewies damit, dass gute Manieren in ihr ebenso tief verwurzelt saßen wie bei ihren Brüdern, und lächelte ihn an. Dr. Berridge – Andrew, wie er sie schon vor einiger Zeit gebeten hatte, dass sie ihn nennen sollte, sie aber nie den Mut dazu gefunden hatte – war erst letztes Jahr nach Reston gezogen, um Partner in Dr. Lawfords Praxis zu werden. Trotz dieser erst kurzen Zeit hatte sich zwischen ihm und ihrem Vater eine Freundschaft entwickelt. Anfangs hatte Sir Wilton sehr misstrauisch reagiert. Dass es nun zwei Ärzte in ihrem Dorf gab, hatte er als Anzeichen dafür gewertet, dass der Ort seiner malerischen Abgeschiedenheit und Ruhe entwachsen könnte. Aber nachdem Dr. Lawford ihm versichert hatte, er wolle lediglich seinen Nachfolger so gut wie nur möglich in Reston einführen, hatte Sir Wilton den neuen Doktor wie einen vor langer Zeit verlorenen Bruder aufgenommen. Der junge Arzt war zwar zwanzig Jahre jünger als Sir Wilton, aber sie hatten an derselben Universität studiert, und Victorias Vater hatte es so sehr genossen, über seine Ausbildungsjahre zu sprechen, dass Dr. Berridge sich beinahe dreimal in der Woche zum Dinner eingeladen fand. Und da Victoria sehr oft seine Tischdame war, hatte sich auch zwischen ihnen beiden eine Art Freundschaft entwickelt.
»Miss Victoria, ist etwas geschehen?«, fragte Dr. Berridge besorgt. »Ist jemand verletzt? Ich werde meine Tasche holen …«
»Oh, nein, nichts dergleichen … die Jungen sind losgerannt, um Mutter aus der Pfarrei zu holen«, erklärte sie atemlos. Die Anstrengung hatte ein warmes Rot auf ihre Wangen gezaubert. Inzwischen hatte Minnie, die noch schwerer atmete, ihre junge Herrin eingeholt.
»Minnie, sind Sie auch so echauffiert?« Ein beunruhigter Ausdruck zeigte sich jetzt auf dem Gesicht des Doktors. »Was hat denn den Haushalt der Wiltons derart aus seiner Ruhe aufgeschreckt?«
»Minnie, wir müssen mein Nadelgeld finden … Oh, es tut mir leid, Doktor, ich nehme an, Sie wollen meinen Vater auf seinem täglichen Spaziergang begleiten«, entschuldigte sich Victoria.
»Schon gut. Aber bitte verraten Sie mir doch, was eigentlich los ist! Warum sollen die Jungen Lady Wilton aus der Pfarrei holen?«
Dr. Berridge, also Andrew, ergriff ihre Hand. In seiner Miene spiegelte sich seine tiefe Sorge wider. Plötzlich wurde Victoria bewusst, dass ihre atemlose Hektik den stets besonnenen und bedächtigen Doktor in die größte Unruhe gestürzt hatte. Sie lachte und drückte ihm
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