Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
ihm, von seinen Lehrern …«
Ihr Vater hatte zwar weitergesprochen, doch Jane hatte sekundenlang nichts davon mehr wahrgenommen. Die Welt um sie herum war still geworden.
Er hält Jason immer noch für einen Schuljungen , hatte sie erschüttert festgestellt, und er glaubt, dass ich …
»Nur zu bald wird auch Jane die Schule besuchen, Liebling«, hatte der Duke gesagt, »und ich werde es ganz und gar nicht schätzen, auf die Erziehung meiner Kinder keinen Einfluss mehr ausüben zu können.«
In diesem Augenblick war Jane klar geworden, dass der Zustand ihres Vaters ernster war, als sie befürchtet hatten.
Als Jane ihrem Bruder jetzt von dieser Episode berichtete, tat Jason nichts anderes, als zur Anrichte zu gehen und zwei Gläser Brandy einzuschenken.
»Ladys trinken keinen Brandy«, bemerkte sie ruhig, als er ihr das Glas reichte.
»Was dich wohl ausschließt, oder?«, lautete Jasons Antwort. Nachdem er im Ohrensessel vor dem Kamin Platz genommen hatte, stürzte er seinen Brandy in einem einzigen Schluck hinunter.
Jane nippte vorsichtig an ihrem Glas und schaffte es, den Schock über das Brennen in ihrer Kehle zu verbergen.
»Bevor ich zum Benning-Ball gefahren bin, habe ich im Klub vorbeigeschaut. Übrigens, was hattest du auf Phillippa Bennings Fest eigentlich zu suchen? Ich dachte, ihr beide hasst euch.«
»Du bist lange fort gewesen«, gab Jane knapp zurück. »Die Zeiten ändern sich.«
Jason tat ihren Zorn mit einem Winken ab und griff seinen ersten Gedanken wieder auf. »Im Klub lautete die erste Frage nicht etwa, ›Wie war es auf dem Kontinent?‹ oder ›Hast du die Zeit im Ausland genießen können?‹« Er hielt das leere Glas gegen das Kaminfeuer und beobachtete, wie ein zarter Lichtstrahl über den Schliff spielte. Ihr Bruder bemühte sich angestrengt um Lässigkeit. »Die erste Frage lautete ›Wie geht es deinem Vater?‹«
Jane verharrte reglos. »Das ist doch ganz natürlich, sich nach dem Duke zu erkundigen«, wiegelte sie ab.
»Jane, du verstehst nicht. Jeder hat mir zuerst diese Frage gestellt.«
Jane trank den Rest ihres Brandys.
»Du hättest nicht nach London zurückkommen dürfen«, fluchte Jason und setzte sich kerzengerade auf. »Vater ist ein stolzer Mann. Glaubst du, er will, dass sein Ansehen durch das Gerücht beschmutzt wird, er würde den Verstand verlieren? Schließlich ist er ein Großcousin zweiten Grades des Königs!«
»Ich dachte, dritten Grades«, unterbrach Jane.
»Das spielt keine Rolle! Ein verrückter König, ein verrückter Duke – die Leute werden noch denken, die gesamte Blutlinie sei verdorben!«
»Vater ist nicht verrückt«, erwiderte Jane hitzig und stand auf. »Und übrigens – was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen, Jason?«
»Tu doch bitte nicht so, als hättest du nicht die erste Gelegenheit beim Schopfe ergriffen, nach London zurückzukehren. Kaum ist das Trauerjahr um ihre Mutter verstrichen, rennt die berühmte Lady Jane auf den Glockenschlag zurück in die Salons der Stadt.«
»Wir waren praktisch allein auf der Burg!«, schoss sie zurück. »Die Dienerschaft hatte jeden zweiten Sonntag frei. Ich hatte Angst. Wenn Vater einen guten Tag hatte, war es in Ordnung, aber es kamen mehr und mehr schlechte Tage, und … ich konnte es einfach nicht. Ich konnte nicht allein dortbleiben.«
»Warum nicht? Ist Vater gewalttätig geworden? Ist er zur Gefahr für sich selbst oder andere geworden?«, fragte Jason plötzlich alarmiert.
»Nein«, gestand Jane ein und freute sich über die Erleichterung, die sie in der Miene ihres Bruders las. »Aber er ist noch … verwirrter. Immer häufiger.«
Jason schwieg einen Moment lang. »Was hat der Doktor gesagt?«
Jane seufzte. »Die Ärzte sagen viel. Und nichts. Sie schieben es auf das Alter, auf seine Abstammung, sie …«
»Sie?«, hakte er nach. »Wie vielen ist er denn vorgestellt worden?«
Jane überging seine Frage. »Aber am Ende sagen sie nur, dass es schlimmer wird und dass er ständige Pflege braucht.«
Einige Minuten lang sah Jason nachdenklich aus. »Dann sollten wir uns um eine dauerhafte Pflege kümmern.«
Jane atmete vor Erleichterung aus und sank für einen kurzen Moment in sich zusammen – zum ersten Mal erlaubte sie sich, die beherrschte Haltung abzulegen, die sie den ganzen Abend über bewahrt hatte. Die sie vielleicht schon das ganze Jahr über bewahrte. Endlich hatte Jason die Lage begriffen. Endlich würde er ihr einen Teil dieser schrecklichen Bürde von den Schultern
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