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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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oder her, stellte sich ihr unausweichlich die eine Frage: Wie wäre es mit anderen Männern?
    Sie war sieben Jahre verheiratet und hatte zwei kleine Töchter, als sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete und feststellte, dass erste Falten ihre blauen Aquamarine umgaben. Falten, die sich im Laufe der Jahre heimlich versammelt hatten wie zu einer Verschwörung. Im Stillen dachte sie etwas Verbotenes: Die Welt war kein unerschöpflicher Quell von Möglichkeiten. Jedenfalls nicht für Wesen ihres Geschlechts. Sie hatte zwei Töchter, Falten um die Augen und einen Ehemann, der ihre Wünsche nicht erfüllen konnte, Wünsche, die er selbst unbewusst geweckt hatte. Der Liebesakt war ein bürokratischer Vorgang wie Kartoffeln schälen oder ein Paar Strümpfe stopfen. Kein einziges Mal in sieben Jahren hatte Afonso Olímpio ihr gegeben, was sie natürlich von ihm erwartete. Romantik, verheißungsvolle Blicke. Das Glück, seine Hand in ihrer zu spüren, das Glück, wenn ihre Körper sich vereinten. Ebenso wenig wie eine Sache, von der sie wusste, dass sie mit einem verbotenen, magischen Wort bezeichnet wurde: Orgasmus .
    Sie hatte zwei Töchter, zwei Mädchen, die eines Tages Frauen sein und mit Männern schlafen würden. Otacília bezweifelte nicht, dass ihre Töchter erfahren würden, was das war: der Orgasmus. Diese Überzeugung machte den Anblick der Mädchen für sie fast unerträglich. Sie stellte sich vor, dass der Orgasmus einem Trancezustand ähnelte. Oder einem Gefühl der Freiheit wie dem, das sie einmalerlebt hatte, als sie, noch ein Kind, mit zusammengekniffenen Augen auf einer Rassestute geritten war und ein Abendgewitter ihr lautes Lachen gepeitscht hatte. War es vielleicht, als wäre man betrunken? Einmal hatte sie unbeobachtet etwas mehr Punsch getrunken als erlaubt und ahnte deshalb, was es bedeutete, betrunken zu sein. Oder war es, als ließe man sich sämtliche Dämonen, sämtliche verbotenen Wörter auf die Haut tätowieren? Vielleicht ähnelte es auch dem Dampf, der dem Ventil des Schnellkochtopfes entwich und für einen Moment den Gedanken weckte, dass es noch anderes im Leben gab als Routine und Mittelmaß und wieder Routine. Als Strümpfe stopfen, miteinander schlafen.
    Maria Inês schlug die Augen auf und langte nach dem Handtuch. Natürlich wurde ihre Ehe zu keinem Zeitpunkt, was sie sich vorgestellt hatte, doch daran war sie selbst schuld, weil sie sich etwas vorgestellt hatte. Etwas erträumt hatte, ohne sich zu fragen, ob sie überhaupt in diesem Traum Platz fand. Das ärgerte sie und dörrte ihre Seele aus. So wie eine Schublade in ihrem Schrank alte Papiere enthielt, Briefe, Zeitungsausschnitte (Interviews mit Bernardo Águas), kleine vergessene Fetische, fanden sich in einer Kammer ihres Herzens Relikte ihres früheren Lebens. Da war ein Tag, eine Familie, ein Mädchen mit Namen Maria Inês. Die Kindheit, so unwirklich, und ein Geldbaum. João Miguel als kleiner Junge und als junger Mann, der vertraute Cousin zweiten Grades. Die Liebe, die Geliebten. Die Zeichnungen und ein Bild vonWhistler mit dem Titel Symphonie in Weiß . Nichts davon hatte tatsächlich existiert. Alles hatte sich aufgelöst wie ein Eiswürfel in der gnadenlosen Hitze des Sommers in der Stadt. Nicht in Jabuticabais, sondern in der anderen, der großen Stadt.
    Die Wahrheit war spürbarer. Sie bestand aus schmerzhaften kleinen Stichen. Wie diesem: Sie saßen im Café Florian in Venedig, sie und ihr Mann João Miguel, der so gut Italienisch sprach. Maria Inês erhob sich, um gleich gegenüber Postkarten zu kaufen, sie war nicht länger als zehn Minuten weg. Zehn Minuten. Das Florian auf dem Markusplatz, das Florian von Proust und Wagner. Und Casanova. Zehn Minuten lang saß João Miguel ohne Maria Inês an einem Tisch des Florian. Später, allein im Zimmer des Hotels Danieli, begriff sie, dass Laster und Tugend sich meist nur durch die Perspektive unterscheiden und nicht selten ihre Plätze tauschen wie bei einem Tanz.
    Sie rieb ihre kurzen Haare trocken. Dann stand sie auf und hinterließ eine feuchte Spur auf dem Badezimmerboden. Achtlos begegnete sie sich erneut im Spiegel. An das Florian zu denken, war nicht ratsam. Nein, wirklich nicht. Sie und ihr Mann waren gute Gefährten, sie hatten sich füreinander entschieden. Das Gleichgewicht wahrten sie mit einem Lächeln, ohne Sex, mit Freundlichkeit und flüchtigen Küssen, mit Hilfe von Klimaanlagen, ohne Schoßhündchen, ohne Begehren, mit Schlafanzügen und Nachthemden, die

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