Der Sommer der Schmetterlinge
tun. Ich möchte dich nicht kränken, du bist absolut in Ordnung, aber diese Feiern zum Jahreswechsel …
Maria Inês wollte ihn daran erinnern, dass niemand ihn gezwungen habe, zu kommen, doch ein Anflug von Solidarität ließ sie bloß den Kopf schütteln und den Satz beenden: … sind eine Qual.
Er wandte sich wieder den Büchern zu. Dann fragte er voller Selbstmitleid: Weißt du, dass wir uns getrennt haben, Luciana und ich?
Maria Inês musste sich gewaltig anstrengen. Luciana: eine Blondine. Hübsch. Letztes Weihnachten.
Das habe ich gar nicht gewusst. Wann denn?
Morgen ist es einen Monat her. Die Mädchen sind bei ihr.
Schemenhaft tauchten in Maria Inês’ Erinnerung die blassen Gesichter von zwei noch ziemlich kleinen Zwillingen auf, mit Zöpfen und identischen Mickymaus-Haarspangen. Jetzt fiel ihr ein, dass João Miguel ihr etwas davon erzählt hatte. Sie hatte nicht hingehört.
Ein vornehm gekleideter Kellner tauchte aus dem Nichts auf und bot Getränke an, wie man es ihm beigebracht hatte. Er servierte und verschwand wieder. Sein Weihnachten bestand darin, die Reichen in einer Wohnung in Alto Leblon betrunken zu machen und heimlich Häppchen zu essen. Der Onkel (Cousin?) setzte sich zu Maria Inês auf einen mit schwarz-weißem Kuhfell überzogenen Hocker.
Ich muss dir etwas sagen. Er seufzte: Ich weiß nicht, ob du darauf vorbereitet bist.
Maria Inês blickte ihn schläfrig an, ihre Miene schien das Offensichtliche zu bestätigen: Ich weiß nicht, was dumir sagen willst, also kann ich nicht wissen, ob ich darauf vorbereitet bin . Wenn P, dann Q. In Gedanken spielte sie mit dem Widerspruch: Wenn ich wüsste, was er mir zu sagen hat, würde ich vielleicht zugeben, nicht darauf vorbereitet zu sein, doch dann hätte all das keinen Sinn, denn ich wüsste es ja schon. Sie lachte, besann sich aber gleich wieder, weil der Onkel (Cousin?) sie bedeutungsvoll ansah.
Ich glaube, dass Luciana und dein Mann ein Verhältnis haben. Erst kürzlich bin ich darauf gekommen. Anscheinend treffen sie sich regelmäßig.
Maria Inês nahm einen Schluck aus ihrem Glas, einen weißen, kühlen Schluck, und blickte auf den weißen, zur Hälfte von einem Teppich mit geometrischem Muster bedeckten Marmorfußboden. Jemand hatte eine brennende Zigarette auf den Teppich fallen lassen. Dort war jetzt ein runder schwarzer Fleck.
Kann sein. Ich weiß nichts darüber, aber es kann sein, sagte sie. Dann fragte sie, ob er immer noch beim Film arbeite und welche Chancen er Four Days in September beim Oscar gebe.
Maria Inês wurde informiert, dass ein Verwandter aus Manaus am Telefon sei. Sie bat den Onkel/Cousin um Entschuldigung und ging im Schlafzimmer an den Apparat. Dir auch frohe Weihnachten. Danach streckte sie sich auf dem Bett aus. Sie war fürchterlich erschöpft. Grundlos erschöpft. Erschöpft, ohne ein Recht darauf zu haben, und deshalb noch erschöpfter. Eduarda öffnete die Tür, um nach ihrer großen-kleinen Mutter zu schauen, unddachte an das Wortspiel, das sie als Kind geliebt hatte: Ein langer Mensch von kurzem Wuchs, mit dickem Bauch, dünn war er auch, saß stehend auf ’ner steinern’ Bank aus Holz und erzählte schweigend gar, dass ein Tauber es gehört, wie ein Stummer ihm gesagt, dass ein Blinder einen Lahmen eilig habe laufen sehen. Und von da kam sie auf ein anderes Spiel, das mit den magischen Bildern, in dem es hieß: Es war einmal ein Mann, der macht die Pfeife an, die Pfeife ist aus Ton, da tönt die Glocke schon, die Glocke weckt den Stier, der wird zum wilden Tier, das Tier, das stößt den Mann, der sich nicht wehren kann, er fällt den Berg hinab, nun liegt er tot im Grab. Zehn zahme Ziegen. Die Katze tritt die Treppe krumm.
Mutter.
Maria Inês öffnete langsam die Augen und sagte: Ich habe zu viel getrunken.
Das macht nichts, heute wird gefeiert, erteilte Eduarda ihr die Absolution.
Sie setzte sich auf die Bettkante und betrachtete die gepflegten Fingernägel ihrer Mutter. Dann betrachtete sie ihre eigenen abgekauten Nägel.
Meine Mutter hatte ganz blaue Augen, sagte Maria Inês. Aber das kannst du nicht wissen.
Eduarda nickte. Das konnte sie nicht wissen. Natürlich nicht. Eduarda hatte Otacília nicht mehr kennengelernt. Sie war vor ihrer Geburt gestorben.
Maria Inês heftete ihre dunklen Augen auf die Tochter, Augen, die das Aquamarin ihrer Mutter nicht übernommen hatten und in denen sich ungesagte Geständnissestauten. Beide dachten sie in diesem Moment an die Fazenda und an Clarice,
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