Der Sommer der Schmetterlinge
nur noch größer. Der Vater fuhr fort und fragte: Stimmt das? Bist du einverstanden?
Sie sah in ihre Tasse und tat, als verfolgte sie mit dem Löffel ein Fitzelchen Rahm. Dabei nickte sie erschrocken und hoffnungsvoll. Ihr Herz begann zu galoppieren wie eine Dampflokomotive auf uralten Gleisen, das Zittern lief ihre Arme hinab und erreichte ihre Hände, verriet sie.
Genau in diesem Moment tauchte wie ein Deus ex machina Maria Inês auf: ungekämmt, im Nachthemd, noch warm vom Schlaf und sich mit den Fäusten die Augen reibend. Um das böse Spiel rasch zu beenden, rief Otacília noch vor der Begrüßung, als ob alles schon beschlossene Sache wäre: Hast du die gute Nachricht schon gehört, Maria Inês? Deine Schwester geht aufs Gymnasium nach Rio de Janeiro.
Ein im Haus umherschleichendes Monster stieß ein Grollen aus, das der Vater, die Mutter und die beiden Mädchen gleichzeitig vernahmen, doch für jeden von ihnen hatte das Monster ein anderes Gesicht und sein Grollen einen anderen Klang. Später weinten Clarice und Maria Inês, jede aus ihren eigenen rechtmäßigen Gründen. Während des restlichen Tages erwähnte Otacília die Angelegenheit nicht mehr, und niemand erfuhr, dass sie gegen Abend ein Pferd satteln ließ und allein nach Jabuticabais ritt, um mit Berenice, ihrer unverheirateten Tante in der großen Stadt, zu telefonieren und sie um etwas zu bitten, das sie ihr nicht abschlagen konnte. Erschöpft und ausgelaugt kehrte sie heim. Sie hatte Fieber und nahm ein Schmerzmittel. Bewusst zog sie sich dann zurück, ließ das Leben verstreichen – die Zeit steht still, aber die Lebewesen .Sie sammelten Tonerde am Fluss. Clarice mochte das Gefühl, wenn die Körnchen unter ihre Fingernägel drangen. Sie hatte drei Freunde: Damião, ein schwarzer Junge von zehn Jahren, der sich immer mit Maria Inês stritt. Die hübsche schwarze Lina, die weder ihr eigenes Erwachsenwerden noch die gebannten Blicke der Männer bemerkte. Und Casimiro, der blond war wie ein Barockengel und fast immer einen von irgendeiner Wurmerkrankung aufgeblähten Bauch hatte. Lina ging zur Schule, doch sie war so hinterher, dass sie kaum lesen konnte. Casimiro und Damião gingen nicht, denn sie mussten auf dem Feld helfen. Sie waren Freunde, aber Clarice erzählte trotzdem nichts von dieser Geschichte, die sie selbst noch nicht verstand. Rio de Janeiro. Aufs Gymnasium. Was sollte sie dort? Wo sollte sie wohnen? Bei wem? Weshalb? Deshalb. Sie wusste, weshalb. Doch sie musste schweigen.
Und sie konnte schweigen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie das gelernt.
Lina, Damião und Casimiro halfen ihr, am Fluss Ton zu sammeln, Ton, den sie später für ihre Skulpturen verwenden würde, die von Unmöglichem sprachen, die Träumen Gestalt gaben und Wunden zu tilgen suchten, die Alpträume vertreiben und Halt bieten wollten. Skulpturen, mit denen sie sich zu retten hoffte. Ihre Füße waren nackt, und unter den abgehärteten Sohlen spürte sie die Steinchen des Flussufers. Damiãos Füße waren voller Sandflöhe.
Damião, nachher kommst du bei uns vorbei und fragst nach mir. Ich mache dir die Flöhe raus.
In stiller Dankbarkeit warf der Junge ihr einen Blick aus seinen unglaublich schwarzen Pupillen in den unglaublich weißen Augen zu. Clarice machte das oft. Mit einer im Feuer sterilisierten Nähnadel stach sie das Hautbläschen auf, in dem der Parasit saß und seine Eier legte. Sie entfernte die eitrige Masse und trug Jodtinktur auf. Damião fing sich die Sandflöhe zu Hause im Garten ein. Immer trug er kaputte Latschen. Die einzigen festen Schuhe, die er besaß, waren ein Paar alte, viel zu große Stiefel, die irgendein Gutsherr ausgemustert hatte und die er für den Kirchgang aufhob.
Bei Lina waren die Haare in einem beklagenswerten Zustand. Außerdem schien sie noch nicht bemerkt zu haben, dass sie inzwischen Brüste wie eine erwachsene Frau hatte, und trug eine enge, zerschlissene Bluse. Sie wirkte kindlicher als der kleine Damião. Einmal hatte Clarice ein Gespräch mitangehört, in dem jemand die Vermutung aussprach, Lina sei ein wenig zurückgeblieben . Aber es war mit Sicherheit verboten, darüber zu reden. Lina war ein heiteres Wesen, sie liebte es, Clarices Haare zu flechten und Maria Inês auf den Schoß zu nehmen wie ein Baby.
Eines Tages werde ich eine Tochter bekommen, sagte sie, und sie wird Maria Inês Clarice heißen, wegen euch.
Linas Vater verbrachte sein Leben damit, sich zu betrinken und irgendwo an der Straße
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