Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
Vom Netzwerk:
liegenzubleiben. Ihre Mutter, eine Wäscherin und Büglerin, balancierte stets kunstvoll ein riesiges Stoffbündel auf dem Kopf. Nur wenige wussten, dass sie sich gelegentlich mit einem Manntraf, der nüchterner war als ihr eigener, und man sie beinahe hätte glücklich nennen können.
    Setz dich hier auf den Stein und halt dich gerade, Lina.
    Wozu?
    Ich will eine Skulptur von dir machen.
    Während Clarice den Ton formte und dabei wieder zu sich fand, sich erholte, naschte Casimiro heimlich etwas von diesem Ton. Der Tag war klar, scharf umrissen. Vor dem schmerzenden Blau des Himmels brummten Fliegen, und Libellen berührten in ihrem hektischen Flug immer wieder die Wasseroberfläche. Zwei von ihnen waren verkoppelt.
    Guckt mal da, rief Damião, und alle außer Clarice fanden die Paarung der Insekten komisch.
    Bei Hunden ist es noch witziger, behauptete Casimiro, und Lina meinte, das sei gar nichts: Ihr müsstet erst mal Pferde sehen.
    Bei Menschen habe ich es noch nie gesehen, seufzte Damião, doch Clarice unterbrach ihn: Hört endlich auf damit!
    Alle verstummten. Sogleich bereute sie ihre Grobheit und erklärte: Es ist nur, weil ich hier eine Skulptur mache und ihr mich mit euren Dummheiten ablenkt. Aber ihre Worte waren bereits mit Traurigkeit gefärbt. Eine zarte Zirruswolke trübte den Himmel, und Geier begannen, über einem nahen Berg zu kreisen. Am Boden neben Clarice tauchte eine große Zecke auf, die sie mit dem Fuß zertrat. Dann versuchte sie, sich auf das zu konzentrieren, was ihre Hände im Ton suchten, Linas hübschenKörper, den die Skulptur in der gleichen Weise zum Ausdruck bringen sollte: voll unbewusster Sinnlichkeit, die kindlichen Züge in der weiblichen Gestalt.
    In diesem Moment stand die kleine Zirruswolke, die allein über den Himmel wanderte, genau vor der Sonne, Schatten breitete sich aus, und Clarice spürte einen kalten Schauer, denn zum ersten Mal kam ihr der erwachsene und gar nicht abstrakte Gedanke an den Tod. Später, als sie Linas Skulptur bei Kerzenlicht in ihrem Zimmer beendete, versah Clarice sie mit tief eingesunkenen Augenhöhlen und nannte sie schließlich: Tod. Ohne zu wissen, dass es eine Vorahnung war.
    Eine Woche darauf weckte Otacília sie in der Nacht, es war schon nach zwei Uhr.
    Ich möchte dir den Mond zeigen, Clarice. Er geht gerade auf.
    Schweigend traten sie barfuß in den Garten hinaus. Ein dicker gelblicher Mond wuchs hinter dem Pinienhain hervor und verwandelte die Bäume in große schwarze Skelette. Die Luft war schwer von der Hitze. Mutter und Tochter fassten sich nicht bei den Händen. Ganz in der Nähe rief eine Eule, Fledermäuse jagten zwischen den Bäumen umher, eine schwarze Linie aus Ameisen querte den Weg. Otacília und Clarice konnten das Knurren des schlaflosen Monsters hören.
    Wir werden uns nur selten sehen, sagte ihre Mutter, und Clarice wusste, dass sie sich auf Rio bezog.
    Zwischen ihnen gab es keine Vertraulichkeiten, keinezärtlichen Berührungen, dafür häufiges und langes Schweigen. Schon immer. Vor allem deshalb hatte Clarice sich über die Initiative gewundert: sie nach Rio de Janeiro zu schicken. Alles war so unausgesprochen, so geheim.
    Auch weil ich krank bin, ergänzte Otacília und verstieß damit kurzzeitig gegen das Protokoll, brach die stumme Übereinkunft mit ihrem Mann.
    Krank woran?
    Das wissen sie noch nicht. Mach dir keine Gedanken, du musst dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern. Dann fügte sie hinzu: Und du brauchst Maria Inês nichts davon zu erzählen.
    Das war eine sanfte Art, ein Verbot auszusprechen. Ihre Blicke wichen einander aus.
    Es wird gut für dich sein, aber wir werden uns selten sehen.
    Bei wem werde ich wohnen?
    Bei meiner Tante Berenice. Sie hat eine Wohnung im Stadtteil Flamengo, nah am Meer.
    Clarice biss sich auf die Lippen: dieser unheilbare Tick.
    Maria Inês wird traurig sein, sagte sie.
    Unsinn, Maria Inês hat genug Freunde, und in den Ferien kommt immer euer Cousin João Miguel. Ihr könnt euch schreiben.
    Vielleicht kann sie mich ab und zu besuchen kommen.
    Otacília seufzte tief, sie wirkte geschwächt und erinnerte Clarice in diesem Moment an ein vertrocknetesBlatt, das nur noch ganz leicht am Zweig haftet, das jeder Windhauch, jede Brise ablösen und ins Ungewisse tragen kann.
    Vielleicht, antwortete Otacília.
    Gebannt betrachtete Clarice den Mond.
    Die Amerikaner wollen Menschen dorthin schicken, sagte sie und deutete auf die gelbe Scheibe hinter dem Pinienhain. Aber dann zog sie

Weitere Kostenlose Bücher