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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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richtigen Süße. After eight .
    Eduarda steckte sich noch ein paar getrocknete Aprikosen in den Mund. Sie mochte die Farbe. Auf der Zunge spürte sie ein säuerliches Brennen. Brahms. Tennisstunden. Sie trug eine kurze Bluse, die ihren von einem kleinen Silberring durchbohrten Nabel entblößte. João Miguel streckte die Hand nach dem Teller mit den Trockenfrüchten aus und nahm sich eine Dattel.
    Der Abend ist so frisch und wohltuend. Die Zypressen duften und sind voll mit diesen kleinen grünen Zapfen, die die Kinder gern sammeln. Die Sonne hat sich bereits hinter die Berge zurückgezogen, aber ihr Licht leuchtet noch.
    Neun Jahre alt zu sein ist nur ein anderer Ausdruck für: Verheißungen. Das Leben ist ein großes, aus einzigartigenMomenten gewebtes Tuch und jede Regung eine Unendlichkeit. Die Hoffnungen sind wie das Fernrohr, das man auf den sternenübersäten Nachthimmel richtet, oder wie das Mikroskop, das einen Wassertropfen untersucht. Wie sie duften, die Zypressen! Und dieser Mädchenkörper, wie leichtfüßig er springt und läuft! Jeder Augenblick ist intensiv. Alles zählt , es gibt nichts Unwichtiges, nichts Überflüssiges. Alles ist verwendbar, selbst die kleinen grünen Zypressenzapfen. Später machen die Kinder aus ihnen eine eigene Währung und beginnen zu handeln:
    Wie viel kostet dieser mit gehackten Gänseblümchen bestreute Sandkuchen?
    Fünf Zypressenzapfen.
    Ein Lächeln, zwei Lächeln, drei Lächeln. Eine Ziege, zwei Ziegen, zehn zahme Ziegen. Es ist eine Epoche, in der die Zeit riecht . Man könnte ein Zeitparfüm herstellen. Natürlich hat das neunjährige Mädchen schon daran gedacht.
    Allein und glücklich – im wahrhaftigsten Glück: dem, das nichts von sich weiß –, läuft sie zwischen den Zypressen umher. Jede Zypresse hat einen Körper und ein Gesicht, jede hat eine Seele, das steht für sie fest. Deshalb bittet sie um Erlaubnis, bevor sie ihnen die grünen Zapfen raubt. Der Himmel ist so hoch, dass man bei seinem Anblick eine genaue Vorstellung vom Unendlichen bekommt. Doch das Unendliche kann innerhalb einer Sekunde sterben.
    Das Unendliche kann auch innerhalb einer Sekunde sterben, die gefriert und für immer fortdauert. Das ist dasGegenteil des Unendlichen, die absolute Endlichkeit. Ein Moment, der mit seiner quälenden, tragischen Wahrheit all die einzigartigen Momente auszulöschen vermag. Ein Moment, der die Kindheit am Hals packt, sie mit einem Würgegriff zu Boden wirft und ihr die Luft abdrückt, bis sie erstickt. Ein Moment, der die Wurzeln der Zypressen verdorren lässt und den mit gehackten Gänseblümchen bestreuten Sandkuchen zertritt.
    Der Korridor des Hauses riecht nach frisch gebohnerten Dielen. Sie läuft auf Zehenspitzen, auf diese Weise übt sie für ihren späteren Beruf als Ballerina. Sie will Ballerina werden, wenn sie groß ist, sie hat eine Puppe (ein Geschenk ihrer Patentante) mit Tüllröckchen, Ballettschuhen, einem Haarnetz und einer Krone mit weißen Glitzersteinchen, die sie für echte Diamanten hält. Sie müssen es sein, denn die Patentante ist sehr reich. In ihren Händen trägt sie mehrere Dutzend Zypressenzapfen. Auch sie ist reich, genauso reich wie die Patentante.
    Die Schlafzimmertür ist halb geöffnet. Die Schlafzimmertür ist sonst nicht geöffnet. Drinnen bewegt sich etwas, ein Monster mit nur einem Auge, ein Monster, das geifert und grunzt und mit seinen schrecklichen Kiefern knirscht. Das Monster, das Kindheitsträume verschlingt. Die halbgeöffnete Tür gibt den Blick frei auf eine Szene, die wunderschön sein könnte: die blasse Wölbung einer kleinen Brust, die das neunjährige Mädchen an seinem eigenen Körper noch nicht kennt. Eine runde Schulter, ein weicher Arm, ein Bauch, glatt wie Papier. Fasziniert schaut sie, als sich plötzlich eine männliche Hand auf diesenzarten Körper legt, als harte Finger diese blasse Brust betasten, ihre bebende Spitze erreichen und sie zwischen Daumen und Zeigefinger halten. Als zögen sie eine Armbanduhr auf.
    Sie schaut. Dann fallen ihr die Zypressenzapfen aus den Händen. Sie möchte die Augen schließen, um die Zeit zurückzudrehen. In diesem Moment geht die Sonne unter, aber die hereinbrechende Nacht unterscheidet sich von allen bisherigen. Es ist eine Nacht, die tot geboren wird. Die Zapfen rollen über den frisch gebohnerten Boden, und eine Träne des Schmerzes und der Angst rollt über die gesunden Wangen des Mädchens, das jetzt die Flucht ergreift, immer noch auf Zehenspitzen. Aber

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