Der Sommer der Schmetterlinge
die Hand zurück, weil Casimiro behauptet hatte, dass man eine Warze an der Fingerspitze bekomme, wenn man auf den Mond (oder waren es die Sterne?) zeige.
Otacília schüttelte den Kopf und meinte: Das werden sie nicht schaffen.
Clarice kreuzte ihre Finger und formulierte eine stumme Bitte: Sie müssen es schaffen . Sie hielt das für äußerst wichtig – ins Weltall aufzubrechen, den Planeten zu verlassen, einen jungfräulichen Boden zu betreten, wo es noch keine fertigen Ideen gab, keine Wünsche und keine Erinnerungen. Es wäre, wie noch einmal geboren zu werden. Dann fiel ihr ein, dass Mitternacht vorbei war und sie daher schon Geburtstag hatte. Sie war jetzt fünfzehn, normalerweise veranstalteten die Mädchen zu diesem Geburtstag schöne Bälle, auf denen sie sich pausenlos lächelnd zeigten und mit ihren stolzen Vätern in weiten, rosafarbenen Kleidern den Donauwalzer tanzten. Sie aber hatte kein Fest gewollt. Ihrer Ansicht nach waren fünfzehn Jahre ein Alter wie jedes andere. Daran war nichts Besonderes, da gab es nichts zu feiern.
Was für eine Krankheit hast du, Mutter?
Ich hab dir doch gesagt, dass du dir keine Gedanken machen musst.
Clarice wollte sie umarmen, ihr Haar streicheln und danach die ganze Nacht an ihrer Brust weinen. Mit einem Schmerzenslaut stolperte das ruhelose Monster über ein paar Zypressenzapfen, die im Korridor verstreut lagen. Die waren natürlich schon vor langer Zeit zusammengefegt worden, und niemand hatte sich je gefragt, was aus diesen toten Samen wohl wachsen würde. Doch Clarice konnte sie nicht aus ihrem Gedächtnis fegen, und womöglich taten sie ihr mehr weh als alles andere.
In ein paar Jahren, wenn sie etwas größer ist, sagte Otacília, kann Maria Inês vielleicht auch nach Rio de Janeiro gehen. Wer weiß.
Clarices Herz hellte sich auf, dennoch wollte sie ihre Frage wiederholen. Mutter, was für eine Krankheit hast du? Aber die Frage stockte auf ihren Lippen, denn wichtiger, als sie auszusprechen, war es, Otacília nicht zu verstimmen. Nur mit Mühe schluckte sie sie hinunter.
Lass uns wieder reingehen, sagte Otacília. Ich möchte, dass du in etwa zehn Tagen fährst. Denk darüber nach und sag mir morgen, ob du einverstanden bist.
Clarice gehorchte und dachte eine ganze schlaflose Nacht darüber nach, in der sie ständig das Monster an der Tür ihres Zimmers kratzen hörte. Es war verwundet. Mal winselte, mal brüllte es. Und plötzlich wollte Clarice nach Rio de Janeiro, wollte es unbedingt, schnell, noch im selben Moment, trotz allem, trotz Maria Inês, trotz Otacílias Krankheit (was es auch sein mochte), trotz Casimiround Lina und Damião: nach Rio. Wenn sie Nordamerikanerin gewesen wäre, hätte sie vielleicht zum Mond fliegen können. Hätte das unermessliche Universum fühlen und endlich feststellen können, dass nichts mehr zählte, dass alles sich auflöste wie Staub oder wie die ewige Nacht mit dem Vorrücken des Morgens, dass alles verschwand wie eine Pfütze in der Sonne.
Der Wind änderte seine Richtung, und das bedeutete Regen. Unter anderem. Maria Inês und ihr Cousin zweiten Grades João Miguel befestigten die aus einem Seil und einem alten Reifen bestehende Schaukel am untersten Ast eines Mangobaums. Clarice konnte die beiden vom Fenster aus sehen, während sie, allein in ihrem Zimmer, sämtliche Kleidungsstücke und persönlichen Dinge aufs Bett legte. Die Koffer packen. Zwei Koffer und ein Extrapäckchen mit den Papieren. João Miguel und Maria Inês wirkten so klein, sie waren so klein. Maria Inês trug ihre Haare zu zwei langen Zöpfen geflochten, die der Wind herumwirbelte und für einen Augenblick in tanzende Schlangen verwandelte. Ein unangenehmer Geruch hing in der Luft.
Clarice hatte nach ihrer Mutter das Bad betreten und ein Haarbüschel in der Dusche entdeckt. Ein dickes Haarbüschel. Das Wasser hatte es zu einer perfekten Locke gedreht. Wegen der Hitze duschte Clarice mit kaltem Wasser, es kam aus einer Quelle und war wirklich bitterkalt, so dass ihre Lippen sich blau verfärbten. Als sie sich wieder ankleidete, bemerkte sie, dass ihr der kleine Spiegel zulächelte. Vor dem Fenster begannen die Wespen, einneues Nest zu bauen. Nachdem sie ihre Sandalen angezogen hatte, verließ Clarice das Bad und ging schweigend und allein ihre Koffer packen. Am nächsten Tag würde sie abreisen.
Sie wählte aus und spürte eine leise Freude dabei, so als hätte sich ein Versprechen erneuert, als hätte sie einen Kindheitsduft wiederentdeckt
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