Der Sommer der Schmetterlinge
Wasserbehälter, dem Becken aus Zement, das der Steinmetz datiert und signiert hatte, als wäre es ebenfalls eine Skulptur, wusch Lina sich den Mund und die Hände. Dann ging sie, und Clarice beobachtete, wie sie sich entfernte: in ihrer weißen Bluse, im Haar das Tuch mit den Schatten von dunkelroten Rosen.
Beim Abendessen erschien Clarice alles gefährlich normal. Wie immer. Das Lächeln, die Worte, die Blicke. Otacília lächelte, unbegreiflich, fiebrig. Afonso Olímpio lächelte, klein und furchterregend. Die Pendeluhr lächelte unter einer frischen Schicht Peroba-Öl und zählte die Sekunden wie ein Metronom. Angst bekam Clarice erst, als sie dem trunkenen, glühenden Blick von Maria Inês begegnete.
Man aß und trank und redete. Ein Verwandter aus Jabuticabais erzählte einen Witz, den Otacília unpassend fand und mit gerunzelter Stirn anhörte. Der Verwandte wechselte das Thema und begann, die aktuellen Fleischpreise zu erörtern.
Unterdessen ging Lina die stumme Straße entlang, mitten durch die mondlose Nacht.
Und Ilton Xavier dachte sich einen verschlüsselten Satz für Clarice aus. Er wollte sie erobern, ihr vielleicht sogar einen Kuss rauben, der ihm half, die Zukunft vorherzusagen.
Maria Inês vertraute João Miguel ein Palindrom an. Ohne zu wissen, dass es einen so komplizierten Namen hatte: Die Liebe ist Sieger, stets rege ist sie bei Leid.
Was ist damit?
Von hinten ergibt es dasselbe.
Lina lief heimwärts. Sie roch nach Schweiß und fühlte Traurigkeit an ihrem Herz nagen. Weil ihre Freundin Clarice fortging. Sie war gewillt, richtig lesen und schreiben zu lernen, damit sie sich Briefe schicken konnten. Bis dahin hätte sie wenigstens die Skulptur, wenigstens das.
João Miguel nahm einen Zettel, um den Satz aufzuschreiben und zu überprüfen, ob er von hinten tatsächlich dasselbe ergab. Die Liebe ist Sieger, stets rege ist sie bei Leid . dieL ieb eis tsi eger stets regeiS tsi ebeiL eiD . An diesem Abend durften alle Kinder ein Glas Punsch trinken. Nur keinen Kaffee, denn danach würden sie nicht einschlafen.
Der Mann trat aus dem Gebüsch, zwischen den Zypressen hervor. Er hatte auf sie gewartet. Er kannte sich aus, obwohl er nicht aus der Gegend war. Er kannte sich aus und hatte auf sie, Lina, gewartet, und wie ein Gespenst trat er zwischen den Zypressen hervor. Die schwarze Nacht ließ ihn einheitlich dunkel erscheinen, als Schattenmit Hut und Augen. Zweidimensional, als wäre er kein Mensch, sondern eine Zeichnung auf einem Blatt Papier.
Lina schrie nicht, denn seine erste schnelle und berechnete Geste bestand darin, ihr mit einer viel zu kräftigen, einer übertrieben kräftigen Hand den Mund zuzuhalten. Niemand hätte solche Kraft gebraucht, um Lina am Schreien zu hindern und zu überwältigen.
Es dauerte eine halbe Stunde und bedeutete sehr wenig. Eine halbe Stunde. So gut wie nichts. Erst dann begann der Regen, ohne Anteilnahme, ohne Mitleid, ohne Gnade.
Am nächsten Morgen wurde getuschelt:
Ich habe immer gedacht, dass dem Mädchen irgendwann so etwas passieren würde.
Sie war nicht ganz richtig im Kopf.
Ein bisschen zurückgeblieben .
Vielleicht hat sie es selbst provoziert. Ihr habt ja gesehen, wie sie herumgelaufen ist.
Ein bisschen frech.
Ein bisschen schamlos.
Stumm und bleich stand Clarice da. In ihren Händen hielt sie die Skulptur mit Linas Körper und dem Gesicht des Todes. Vor sich erblickte sie Linas Körper und das Gesicht des Todes. Doch es regnete nicht mehr, denn es war Februar, und im Sommer ereignete sich alles immer sehr heftig und kurz. So gab es in der Nacht ein Unwetter und am Morgen darauf einen skandalös blauen Himmel, soaß Lina abends einen Teller Reis mit Bohnen und Schweinefleisch, und am Morgen darauf –
Niemand hatte eine Idee, wer der Mann sein konnte. Jemand von außerhalb. Er hatte Linas Körper ohne ihre Einwilligung genommen und benutzt, wie man einen Teller zum Essen benutzt. Danach hatte er ihn weggeworfen.
Jeder hatte dazu eine Meinung, aber bald entschieden Otacília und Afonso Olímpio, dass das Geschehene zu den verbotenen Dingen gehöre, sie schickten Maria Inês und João Miguel ins Haus und ermahnten den Taxifahrer, der auf Clarice wartete (um sie zur Station von Jabuticabais zu bringen, wo sie den Bus nach Friburgo und von dort nach Rio de Janeiro nehmen sollte), den Motor seines Fahrzeugs anzulassen.
Clarice selbst sagte nichts. Ein feiner, unwirklicher Dunst stieg vom feuchten Boden auf. Der Morgen konnte so viel nicht
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