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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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krähen würde.

SYMPHONIE IN WEISS
    Eine Frau, die seine Erinnerung stets in jugendliches Weiß kleidete.
    In jener Zeit stellte die Wohnung in Flamengo ein überaus anziehendes Chaos dar. Der Geruch nach Farbe überlagerte sogar den Geruch nach Frittiertem, an Tagen, an denen Tomás, fast immer erfolglos, versuchte, seine Fähigkeiten als Koch zu erproben. Meistens aß er im Vorübergehen ein Sandwich oder ein bescheidenes warmes Gericht in irgendeiner Kneipe. Er hatte kein Geld, natürlich nicht. Mit zwanzig Jahren.
    Die Poesie des Blicks. An dem Morgen, als Tomás aufwachte und begriff, dass er zwanzig Jahre alt war, war der Himmel bewölkt. Ein geheimnisvoller Morgen, reich an falschen Verheißungen. Seine Aussichten waren ebenso großartig wie ungeordnet, und er hatte noch nicht erkannt, dass er sein Talent eingrenzen musste. Zivilisieren. Es befähigen, ein Ergebnis hervorzubringen, ein in der Außenwelt verständliches Zeichen, nicht bloß Träume und Wunschvorstellungen. In einem abgetragenen Oberhemd, seiner ständigen Arbeitskleidung, das am Kragen durchgewetzt und übersät war mit Flecken, musterte er seine Gemälde, Entwürfe, Studien, Skizzen und Materialien. Er dachte an James Abbott McNeill Whistler, dersein Bild im Jahr 1862 gemalt hatte. Und an das blasse Mädchen (mit den blassen Gesichtszügen, vor einem blassen Hintergrund, in einem blassen Kleid), das auf einmal in Gestalt einer über den Balkon der Nachbarwohnung lehnenden jungen Frau wiederkehrte. Unmöglich, Kunst und Liebe zu trennen. Tomás besaß ganze Hefte mit furiosen Zeichnungen, aus denen noch keine Bilder geworden waren. Dieser Moment seines Lebens lag für ihn vor allem .
    Und sie, das Mädchen in Weiß, hörte Ballettmusik. Tschaikowski. Die Fortissimos drangen bis zu ihm herüber, er war zwanzig Jahre alt, hatte scharfe Augen und ein gutes Gehör. Die ungekämmten Haare des Mädchens in Weiß waren schwer, sie fielen kaum anders, wenn sie ihren Körper sanft hin und her bewegte. In ihrem Leben lag dieser Moment nicht mehr vor allem , auch wenn er zweifellos recht einschneidenden Ereignissen vorausging, Dingen, die in der Vergangenheit gegen ihren Willen gesät worden waren.
    Tomás sah das Mädchen, sie sah ihn noch nicht. Deshalb verließ sie den Balkon ganz natürlich und kehrte in das dunkle Zimmer zurück, beugte sich über die Frisierkommode und betrachtete ihr ovales Gesicht im ovalen Spiegel. Dann hob sie den Saum des weißen Kleides an, das ihrer älteren Schwester gehört hatte, und wurde zu einer Ballerina, erfand (etwas nachlässige) Bewegungen mit den Armen und Beinen. Gebannt sah Tomás ihr zu – nicht weil das Mädchen besonders hübsch gewesen wäre, sondern weil sie ein Gemälde von Whistler war.
    Und nun kam sie. Sie, Maria Inês, an diesem beängstigend wirklichen Morgen. Der Abdruck eines nach vielen Jahren von der Wand genommenen Bildes. Sie, Maria Inês. Sein Leben, das aufgehört hatte, bevor es begann.
    Mit zwanzig Jahren, vor allem , war Tomás davon besessen gewesen, sie zu zeichnen, die Nachbarin, die vor dem Spiegel ihrer Frisierkommode Tanzschritte übte, von ihren langen, dicken, dunklen Haaren gefolgt wie von einem Geist. Sie zu zeichnen, sie einzufangen, sie festzuhalten. Sie zu lieben. Er brachte seine besten Zeichenblätter zum Einsatz, seine besten Stifte und Kohlen und Pastellkreiden und stürzte sich in das Abenteuer herauszufinden, wer Maria Inês war. Ein Vorhaben, das nie an sein Ziel gelangen sollte.
    Auf die erste Vision, als er sie staunend mit dem Mädchen von Whistler in Verbindung brachte, folgten weitere. Einige schrecklich bunt, mit kubistischen Grimassen, die vielleicht an Dora Maar von Picasso erinnerten. Andere anmutig wie Mlle Georgette Charpentier von Renoir und noch andere wahrhaft blasiert wie die jungen Frauen bei Jean-Honoré Fragonard. Aber keine von ihnen geglückt und überzeugend.
    Jugendliches Weiß. Zu diesem Zeitpunkt war Maria Inês erst siebzehn. Aus dem Landesinnern erreichten sie Briefe von Clarice: Nun sind wir wieder durch eine große Entfernung getrennt, dieselbe Entfernung, wir haben nur die Orte getauscht. Du in der Stadt, an meiner Stelle, in dem Zimmer, das ich bei der Großtante bewohnt habe, und ich zurück in unserer vertrauten Landschaft – dieselbenHügel, dieselben Gesichter, die Wiederkehr des Immergleichen. Ich glaube, es ist besser so.
    Clarices Verzweiflung blieb verborgen wie ein Paar Ohranhänger in einem Schmuckkästchen. An ihrer linken Hand

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