Der Sommer der Schmetterlinge
trug sie jetzt einen goldenen Ehering, auf dessen Innenseite der Name Ilton Xavier eingraviert war.
Die beiden Schwestern schrieben sich nicht viele Briefe. Der Form, dem Inhalt und der Häufigkeit nach war das zu wenig. Aus Rio de Janeiro (wo es Flughäfen und sehr niedrig fliegende Flugzeuge gab) berichtete Maria Inês etwa, dass sie ihre Aufgaben zur allgemeinen Zufriedenheit erfülle. Die Oberschule, den Klavier- und den Französischunterricht. Was nicht ganz stimmte. Und sie erzählte, dass es ihr gefalle, in dieser großen Wohnung am Meer zu leben. Dass sie den großen Spiegel über der Frisierkommode möge, der sie in eine Ballerina verwandle.
Von der Fazenda berichtete Clarice ihrerseits, dass sie ihre Ehe zur allgemeinen Zufriedenheit erfülle und dass es ihr gefalle, mit Ilton Xavier und seinen Eltern in dem hundertjährigen Palast mit seinen schneeweißen Mauern und blauen Fenstern zu leben. Was nicht ganz falsch war. Sie hatte die Hälfte eines Bettes für sich allein, dazu einen Schrank und ebenfalls eine Frisierkommode. Aber sie wurde für gewöhnlich nicht zur Ballerina, sie zog immer noch die kalte, intensive Berührung mit dem Ton und dem Stein vor, wenn sie Träume und Alpträume in Skulpturen verwandelte. Das Land von Ilton Xaviers Eltern grenzte an das von Otacília und Afonso Olímpio.
Sich entfernen.
Aber nicht weit.
Die schlimmen Worte sprachen Maria Inês und Clarice niemals aus. Ihre Eltern hatten ihnen Schweigen und Heimlichkeit beigebracht. Bestimmte Dinge, Tatsachen, waren nicht benennbar. Nicht einmal denkbar. In dieser Familie gehorchte alles einem sehr speziellen Mechanismus, der dazu diente, dem Unglück eine steinerne Maske aufzusetzen. Deshalb behielt Maria Inês die grausamen Worte weiterhin für sich und passte auf, dass sie ihr so wenig wie möglich weh taten.
Sie übte Ballett, obwohl sie wusste, dass sie schon zu alt war, um auf eine Karriere als Tänzerin hoffen zu dürfen. Sie tanzte für den Spiegel. Außerdem machte sie ihren Schulabschluss und nahm aus völlig unersichtlichen Gründen Klavierstunden. Sie hasste es, nach irgendwelchen langweiligen Methoden die Daumen trainieren zu müssen. Wie nach diesem Hanon. Sie hasste Tonleitern und Arpeggios. Aber es tat gut, beharrlich zu bleiben, das war neu und gab ihr Halt.
Mindestens drei Mal in der Woche erhielten sie und die Großtante Besuch von ihrem Cousin zweiten Grades João Miguel. Stets brachte er Blumen oder Pralinen mit. Er hat großes Interesse an dir, sagte Großtante Berenice mit ihrer schmeichelnden Stimme, einer durch Jahrzehnte der Konversation mit Hunden, Katzen, Kanarienvögeln und anderen Haustieren geschulten Stimme.
Maria Inês wusste es. Ja, er hat großes Interesse an mir.
Ich glaube, er wird dir irgendwann einen Heiratsantrag machen, meinte Großtante Berenice.
Maria Inês lächelte und schwieg.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie entdeckte, dass ein bestimmter Bewohner eines Nachbargebäudes viel Zeit damit verbrachte, aus dem Fenster zu sehen, wobei er oft einen Block Papier in den Händen hatte und zu zeichnen schien. Beobachtete er sie? Maria Inês überlegte: Möglicherweise zeichnete er das Gebäude, die Fenster, die Fassade. Angeblich war es ein schönes Beispiel des Art-déco-Stils. (Als sie zum ersten Mal auf diesen Begriff gestoßen war, hatte Maria Inês ihn buchstabengetreu ausgesprochen, Art deko , bis sie korrigiert wurde: Das ist Französisch, Kindchen, es heißt Ar dehkó !) Art déco also. Sie wohnte mit Großtante Berenice in einem Art-déco-Gebäude. In den zwanziger Jahren erbaut. Vielleicht studierte der junge Mann aus dem Nachbargebäude (das kein Art déco war) ja Architektur. Die Spekulationen gingen weiter, bis zu dem Tag, an dem er sich entschloss, ihr zuzunicken, und Maria Inês zurücknickte, ohne zu wissen, ob sie in dieser Geschichte eine Neben- oder eine Hauptfigur war. Aber er klärte alles schnell auf und sagte: Hallo, Mädchen aus dem vierten Stock, und sie antwortete amüsiert und etwas kindisch: Hallo, Junge aus dem … fünften Stock?
Er gestikulierte. Ich habe ein paar Zeichnungen gemacht. Willst du sie sehen?
Maria Inês dachte kurz nach und fragte dann, als könnte ihr das einen Beleg für seine Unbescholtenheit liefern: Wie heißt du?
Tomás, antwortete er, und sie stimmte mit einer Kopfbewegungzu, so als hätte er bei einem Quiz in irgendeiner Unterhaltungssendung die richtige Antwort gegeben und dürfte jetzt seinen Preis in Empfang nehmen.
Wir
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