Der Sommer der Schmetterlinge
schliefe, in Wahrheit aber grübelte er.
Grübelte und grübelte. Über die Frage, die zu stellen er nicht den Mut fand: Hatte es einen anderen Mann in ihrem Leben gegeben? Er besaß selbst nicht viel Erfahrung. Aber er wusste aus Büchern und Männergesprächen, wie das erste Mal bei einer Frau normalerweise ablief. Die ganzen Schwierigkeiten, der Schmerz, die Blutung, diese Dinge. Er grübelte und grübelte. Bei Clarice war es nicht so gewesen. Doch am Ende beschloss er, die Sache zu vergessen. Das war eine mögliche Lösung für Ilton Xavier: die Sache zu vergessen. Und mit seiner geliebten Ehefrau glücklich zu sein. Also vergaß er die Sache und war über die Maßen glücklich mit seiner geliebten Ehefrau. Bis zu dem Tag, an dem sie ihn ohne jede Vorankündigung verließ. Kein Brief, nichts.
Clarice zog ihr Nachthemd wieder an und darüber einen marineblauen Wollpullover. Dann holte sie sich die niedlichen, selbstgestrickten Wollpantoffeln, die tief in ihrem Koffer steckten, schlüpfte hinein und ging aus dem Zimmer.
Das Haus von Ilton Xaviers Eltern unterschied sich deutlich von dem ihrer eigenen Eltern. Vor allem war es wesentlich älter, es stand schon seit einem Jahrhundert. Seine Mauern waren von Sklaven errichtet worden, mitGeld aus dem Kaffeeanbau. Ein Baron hatte seine entschlossenen Schritte auf dem Holzfußboden und sein Gesicht auf einigen vergilbten Porträts in ovalen Rahmen hinterlassen. Francisco Miranda, 1875, las Clarice auf einem der Porträts. Es war auch wesentlich größer, dieses Haus, es hatte zehn Schlafzimmer und nicht nur vier. Es hatte sogar eine kleine Kapelle, in der Bilder der Jungfrau mit Christus auf dem Arm hingen, Bilder des heiligen Josef und des heiligen Judas Tadeus, und in der ein mit altgrünem Samt bezogener Betstuhl stand. Unzählige Räume gingen vom Korridor ab, in denen Clarice sich zu verlaufen fürchtete. In einem von ihnen, das Lesezimmer hieß (alle hatten sie Namen: Lesezimmer, Musikzimmer, Esszimmer, Spielzimmer, Speisezimmer, Wohnzimmer), entdeckte sie einen ausgestopften Sperber und ein Kaimanjunges, die sie am liebsten hinausgeworfen oder wenigstens auf das oberste Brett irgendeines Schranks verbannt hätte. Überall stieß sie auf Trophäen und Medaillen. Und es gab so viele Gesichter auf alten Fotografien, dass sie dachte, selbst wenn sie jahrelang in diesem Haus wohnte, werde sie nie in der Lage sein, ihnen die richtigen Namen zuzuordnen.
Sie öffnete das hohe Fenster des Lesezimmers einen Spaltbreit, ein geisterhaftes Mondlicht fiel in den Raum. Die kleine Pendeluhr zeigte zehn Minuten nach drei. Eine nächtliche Stunde, die fast immer in der Anonymität des Schlafs unterging. Dann lehnte sie sich auf das Fensterbrett und sah, dass das gesamte Tal in das milchige Licht dieses riesigen Vollmondes getaucht war. Der Fluss befandsich in unmittelbarer Nähe. Man konnte ihn nicht sehen, doch sein Rauschen drang deutlich an ihr Ohr. Hinter dem Fluss lag die große Viehweide. Dann kam die Straße. Und dann der Steinbruch, der im Mondlicht lebendig schien, ein lauerndes Tier, und dahinter das Haus ihrer Eltern (noch ein lauerndes Tier).
Sich entfernen, aber nicht weit.
Clarice streifte noch ein wenig durch die anderen Zimmer, dann ging sie in die Küche, um die Katzen zu beobachten. Es gab eine ganze Menge von ihnen, sie hatten sich vor dem mit Holz geheizten Herd zusammengerollt, der noch etwas Wärme verströmte – wie der Körper eines Geliebten spät in der Nacht.
Wie Ilton Xaviers Körper. Unschuldig glücklich in seinem Ruhezustand. Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück, lautlos in ihren niedlichen Wollpantoffeln. Ilton Xavier hatte sich im Bett bewegt, das Laken war verrutscht: sein linkes Bein, sein Geschlecht und sein Bauch waren ohne Scham und ohne Absicht entblößt. Clarice deckte ihren Mann abermals bis zu den Schultern zu. Sie bemerkte, dass seine Haare selbst im Dämmerlicht erstaunlich hell waren, ein Erbe seiner europäischen Abstammung. Aus der Schweizer Kolonie in Nova Friburgo. Ilton Xavier konnte sogar Deutsch sprechen, er hatte es zu Hause gelernt und Clarice die Zahlen bis zehn und ein paar Substantive beigebracht: die Blume. Die Schwarzkirsche für jabuticaba . Der Wald, der Stern, die Liebe.
Die Liebe.
O amor.
Und die Geheimnisse.
Clarice legte sich auf das Bett, ohne ihre niedlichen Pantoffeln und den Pullover auszuziehen. Sie schloss die Augen und wartete auf das Anbrechen des Tages, auf den ersten Hahn, der unter ihrem Fenster
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