Der Sommer der Schmetterlinge
treffen uns im Foyer, legte sie fest.
Bei mir?
Nein, bei mir.
Von diesem Moment an war klar, dass sie die Regeln diktierte.
In der Eingangshalle des Art-déco-Gebäudes gab es zwei gegenüberliegende Spiegel, die ein Spiel mit der Unendlichkeit inszenierten, und unter den Spiegeln zwei gleiche Bänke. Maria Inês setzte sich auf eine von ihnen und sah Tomás näher kommen. Sofort fielen ihr seine hellen Augen auf, viel später erst seine von Farbe schmutzigen Fingernägel. Auf den Zeichnungen, das war sie. Meistens in Weiß gekleidet.
Wie auf einem Bild von Whistler, erläuterte er. Aber sie kannte Whistler noch nicht.
Schenkst du mir eine Zeichnung?
Such dir eine aus.
Erst da wurde sie ein bisschen verlegen und schüchtern, fast aus Pflichtgefühl, denn schließlich war er ein Unbekannter, und sie befanden sich in dem Alter, in dem ein Magnetfeld den Körper umgibt wie ein Duft.
Gut, beeilte sie sich, danke, komm mal vorbei, dann lernst du meine Großtante kennen, es war sehr nett, bis bald.
Während sie sich in Richtung des Fahrstuhls entfernte, winkte sie mit vielen Händen. Noch für einen Augenblickkonnte Tomás sie sehen, wie sie zwischen den beiden Spiegeln gefangen war und ins Unendliche vervielfacht wurde.
Wie es sich für einen Teenager gehörte, erhielt die Zeichnung einen Ehrenplatz am Kopfende ihres Bettes. Ohne böse Absichten schwebte Großtante Berenice in ihren Kleidern voller Katzenhaare in Maria Inês ’ Zimmer, schnüffelte herum und stieß einen ahnungsvollen Seufzer aus. Dieses leidige Missverhältnis zwischen Körper und Geist, dachte sie. Sie fühlte sich alt, körperlich alt. Sie hatte den Eindruck, dass es keine Worte mehr gab, die sie verstehen konnte. Es gab keine Gesprächspartner mehr, ihre Welt war still. Wenn sie in so eine melodramatische Stimmung geriet, lief Großtante Berenice Gefahr, sich noch älter zu fühlen und damit einen Teufelskreis zu beschreiten. Doch sie besaß auch die wunderbare Gabe, gewissen Gedanken den Rücken zu kehren und dem Himmel andere Farbtöne abzugewinnen. Sie ging zum Fenster und sah den Jungen im fünften Stockwerk des Gebäudes auf der anderen Straßenseite. Er sah hübsch aus, aber in diesem Alter sahen sie alle hübsch aus. Dunkles, gelocktes Haar. Sie winkte ihm mit der nicht mehr vorhandenen Schüchternheit einer Großtante zu, dabei klimperten die schweren Armreifen an ihrem rundlichen Handgelenk, und unter ihrer karamellfarbenen Seidenbluse schaukelten die Fettpolster ihres Oberarms.
Tomás erinnerte sich genau an das Lächeln von Großtante Berenice, an die Grübchen in ihren dicklichen Wangen.
Die Zeit steht still, aber die Lebewesen leben weiter.
Und an die Armreifen voller Anhänger. Er erinnerte sich an die Aufregung, die in ihren Augen blitzte, als er schließlich in ihrer Wohnung empfangen wurde. Und an die gleichzeitig lüsterne und zartfühlende Art, mit der sie so tat, als merkte sie nichts.
Die Zeit steht still, aber die Lebewesen leben weiter.
So trat Tomás in Maria Inês’ Welt ein. Sie trafen sich immer nachmittags, um den anderen zu entfliehen. Wie zwei Tiere, die gemeinsam auf Wanderschaft gehen. Sie liefen die Küste von Flamengo entlang und wunderten sich pausenlos über die Fähigkeit des Meeres, sich selbst gleich zu bleiben und dabei doch zu erneuern. Sie suchten und fanden Übereinstimmungen in ihrem Wesen, verständigten sich in einer Geheimsprache und lachten über die Passanten – die sie nicht mit diesem gehobenen Wort bezeichneten: Passanten . In einem einzigen Blickwechsel ließen sie unendliche Lebensmöglichkeiten aufflammen: Alles war möglich. Tomás glaubte tatsächlich daran.
Sie hatten es eilig, aber sie vergeudeten ihre Zeit. Waren leichtsinnig. Jung. Die Wirklichkeit nahm besondere Gestalt an, und nur sie beide besaßen den Schlüssel zu ihr. Deshalb konnte Tomás alles vorwegnehmen, und Maria Inês konnte alles vergessen und aufschieben. Sie wurden unendlich und stets neu wie das Meer, hüllten sich in Geheimnisse, so viele Geheimnisse.
Natürlich existierte auch eine andere Dimension: die Haut, der Geruch, den sie verströmte. Und so geschah es an einem von bedenkenlosen Gesten erfüllten Ursprungsnachmittag,dass sich ihre Lippen berührten, gierig, aber ohne Überraschung. Damit kam der junge Künstler dem Cousin João Miguel zuvor, der jedoch schon länger und anders zu Maria Inês gehörte (und sie abends weiterhin besuchte, parfümiert, gut angezogen und mit Rosen und Pralinen im
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