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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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nicht unterwerfen. Otacília wartete, dass Maria Inês wissen wollte, warum im Dezember, aber die Frage kam nicht. Also verschwieg sie auch die Antwort. Einen Moment lang trafen sich die Blicke von Mutter und Tochter zwischen dem Kühlschrank und dem Spülbecken, es entstand eine Spannung, die beide aushielten, als wäre es ein Wettkampf. Ein Kräftemessen.
    Dezember also, sagte Maria Inês. Ihre Stimme hatte den Klang eines formellen Vertrags. Sie hörte sich nach Kanzlei an, nach Stempeln und beglaubigten Unterschriften. Danach wollte sie sich fast nach Otacílias Gesundheitszustand erkundigen, doch die Frage blieb Wille ohne Tat, und sie beobachtete nur, wie ihre Mutter sich entfernte: klein und schwach, krank, erloschen, nutzlos. Die wahre Otacília. Die von nun an die Einsamkeit des Zusammenseins mit Afonso Olímpio würde ertragen müssen. Dem Ehemann, für den sie sich im Alter von achtundzwanzig Jahren entschieden hatte, am glücklichsten und unwirklichsten Tag ihres Lebens.
    Wenige Minuten später kam João Miguel zu ihr, ohne Jackett, ohne Krawatte, die beiden obersten Hemdknöpfe geöffnet.
    Und?
    Eine rhetorische Frage. Maria Inês kaute an ihren Fingernägeln und beobachtete eine Eidechse, die im Zickzack die Decke entlanglief.
    Deiner Mutter geht es nicht gut. Sie sollte nach Rio fahren und einen Arzt aufsuchen, sagte João Miguel mit echter Anteilnahme.
    Ja, stimmte Maria Inês gereizt zu. Als hätte sie damit nichts zu tun.
    Dann nahm sie einen dreibeinigen Hocker, ging damit in die Speisekammer und kehrte mit einer halbleeren Likörflasche zurück. Triumphierend sagte sie: Sie denken, ich weiß nicht, wo sie das Zeug aufbewahren.
    Sie füllte eine Tasse. Selbstgemachter Orangenlikör. Willst du einen Schluck? João Miguel verneinte, er habe beim Fest schon genug getrunken. Niemand hatte seinen Konsum reglementiert, schließlich war er schon fast ein erwachsener Mann. An diesem Ort, in dieser Familie wurden die sichtbaren Dinge von peinlich genauen, äußerst strengen, unumstößlichen Gesetzen bestimmt (während die unsichtbaren Dinge ihren eigenen Gesetzen gehorchten). So war eine siebzehnjährige männliche Person beispielsweise jemand, der bei Feiern alkoholische Getränke zu sich nehmen durfte.
    Als sie ihre Tasse Likör geleert hatte, sagte Maria Inês: Ich gehe im Dezember.
    Nach Rio?
    Ja, nach Rio. (Logisch! Wohin denn sonst?)
    João Miguel freute sich wie ein Kind. Das ist ja bald! Wie schön!
    Und er fing an, über die Orte zu reden, die sie kennenlernen, die Filme, die sie sehen, die Strände, die sie besuchen, die Klubs, in die sie tanzen gehen, und die Eisdielen, in denen sie Pistazien- oder Haselnusseis (hauptstädtische Leckereien) probieren würden.
    Natürlich plante er Tomás nicht ein. Genauso wenigwie er verschiedene andere Dinge einplante, die in Maria Inês’ Leben eine Rolle spielen würden – und in seinem eigenen Leben und in dem gemeinsamen Leben, das sie einige Jahre später gründen sollten, als Mann und Frau. Verborgene Dinge, mal bunt wie die Wimpel beim Johannisfest, mal grau wie ein Regentag, die weh taten, die glücklich machten wie ein Riesenrad, die zerfraßen wie Rost. Und die schwiegen wie ein schläfriger, trübseliger Engel.
    Clarices Ehe dauerte sechs quälende Jahre. In jener Oktobernacht aber, ihrer Hochzeitsnacht, erschauderte sie noch hoffnungsfroh angesichts der neuen Möglichkeiten, die sich ihr eröffneten. Sie parfümierte sich und streifte das lachsfarbene, mit Guipure-Spitze besetzte Nachthemd über. Dann betrachtete sie ihre Fingernägel und fand es lustig, dass sie weinrot bemalt und lang waren wie bei einer Filmschauspielerin. Als sich Ilton Xavier jedoch zu ihr legte und umständlich von dem Gebiet Besitz ergriff, dessen Eigentümer er durch das Gesetz und die Heilige Apostolische Römisch-Katholische Mutter Kirche geworden war, ahnte Clarice, dass die Dinge sich nicht so zauberhaft fügen würden, wie sie gehofft hatte. Nicht so einfach und unbeschwert.
    Auf ihr lastete bereits eine Art Urteil, das wusste sie. Eine Art unheilbare Krankheit. Etwas Endgültiges, Unumkehrbares.
    Doch sie war demütig und gehorsam wie immer.
    Nachdem Ilton Xavier (der taktvolle, der leidenschaftlicheIlton Xavier) seine nicht besonders ehrgeizige Darbietung beendet und sich wie ein Kind, das Kopfkissen im Arm, zum Schlafen zusammengerollt hatte, deckte sie ihn bis zu den Schultern zu. Es war ein kalter Morgen. Ilton Xavier schloss die Augen und tat, als ob er

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