Der Sommer der Schmetterlinge
Vater?
Auf Reisen. In geschäftlichen Angelegenheiten.
Wie immer.
Wie fast immer.
Wann wird er zurück sein?
Keine Ahnung. In einer Woche, zehn Tagen.
Sie blickte auf die im Dämmerlicht unkenntliche Straße. Und dachte an Afonso Olímpio, bis eine Feuerkugel durch ihre Kehle glitt und ihr den Magen verbrannte.
An der beschriebenen Stelle bog das Auto nach rechts ab.
Und nun?, fragte João Miguel.
Nicht weit von hier kommt eine Brücke. Und hinter der Brücke verbreitert sich der Fluss zu einem hübschen kleinen See.
So hübsch war er nun auch wieder nicht. Sie war seit Jahren nicht mehr dort gewesen. In ihrer Kindheitserinnerung erschien ihr der Ort paradiesisch, doch jetzt stelltesie fest, dass er nichts Außergewöhnliches an sich hatte. Sie parkten das Auto an einem Bambushain und gingen zu Fuß einen schmalen, steilen Weg hinunter. Aus der Ferne wirkten die dunklen Bambusbüschel wie riesige behaarte Insekten. João Miguel rutschte aus und fiel hin. Maria Inês musste lachen. Seine Hose war am Hintern mit Schlamm beschmiert. Dann erreichten sie das Ufer des Sees, dessen honigfarbenes, lehmiges Wasser im Abendlicht schimmerte. Ringsum gaben die Schmiedefrösche hämmernde Laute von sich, und eine Gruppe Enten versammelte sich einige Meter entfernt von ihnen an Land. Libellen summten über die Wasseroberfläche, und der Gesang der Nachtvögel mischte sich mit den Rufen einiger verspäteter Tagvögel, die offenbar Überstunden machten. Sonderschicht.
Es gab mal eine Zeit, da habe ich dich gern mit Fröschen erschreckt, sagte Maria Inês.
Und mit Käfern, fügte João Miguel hinzu. Aber sie lächelten nicht wie zwei junge Erwachsene, die sich liebevoll an ihre Kindheitsabenteuer erinnern.
Zwei junge Erwachsene. Fast gleichaltrig. Er gerade zweiundzwanzig geworden, sie bald einundzwanzig.
Mit erwachsenen jungen Möglichkeiten, die sich in ihren jungen erwachsenen Herzen vervielfachten. Wie der Kuss, der João Miguel nicht überraschend traf. Oder die anschließenden Zärtlichkeiten, die Maria Inês nicht überraschend trafen.
Sie saßen auf einem flachen Felsen zwischen einigen größeren. Ein mächtiger Mango zeichnete sich vor demHimmel ab. Freundlich und diskret flatterten Fledermäuse von Baum zu Baum wie wechselhafte Ansichten über einen Ort oder einen Menschen. Maria Inês dachte an Tomás und seine unaufgeräumte, nach Farbe riechende Wohnung, und ihr kam in den Sinn, dass die Liebe vielleicht eine ihrer jungen erwachsenen Möglichkeiten von Freiheit war: Wann sie wollte und mit wem sie wollte.
João Miguel fragte nicht, wer ihr erster Mann gewesen sei. Auch nicht, wie viele Männer sie gehabt habe. Maria Inês war immerhin eine Frau von knapp einundzwanzig Jahren, und er wusste nicht genau, wie er sich dem Problem nähern sollte: mit Furcht oder Respekt, mit Bewunderung oder Zweifel oder einfach mit Liebe. Je weiter er sich vorwagte, umso deutlicher merkte er, dass ihr Körper alles andere als unerfahren war. Die Eifersucht, die wie ein Geist in ihn fuhr, wandelte sich auf dem Weg durch seinen Blutkreislauf und erreichte sein Herz als ein unklareres Gefühl. Ein besitzergreifendes, vielleicht auch destruktives Gefühl – aber das konnte er nicht wissen, fürs Erste.
Womöglich hätten sie da schon alles voraussehen können. Venedig. Das Florian. Bernardo Águas. Eduarda. Die weiße Wohnung in Alto Leblon. Den Tennislehrer. Die Weihnachtsabende. Den vielen Marmor. Doch sie waren nur junge Erwachsene, die eher jung als erwachsen waren.
Maria Inês hatte die Sache nicht geplant. Und João Miguel glaubte fälschlicherweise, dieser Abend, an dem sie sich auf einem unbequemen Felsen am Ufer eines honigfarbenenSees liebten, sei nur einer durch den Tod ihrer Mutter ausgelösten emotionalen Verwirrung geschuldet.
Doch Otacílias Tod hatte bei Maria Inês keine emotionale Verwirrung ausgelöst. Andere Dinge schon. Andere Dinge, die schlimmer waren als der Tod.
Maria Inês genoss ihre Freiheit. Ohne zu wissen, dass Freiheit nicht unbedingt das bedeutete. Ihr Kopf lag auf João Miguels Brust – die im Gegensatz zu Tomás’ Brust behaart und muskulös war. Sie schwiegen und warteten, dass sich die ersten Sterne zeigten, aber sie zeigten sich nicht, weil die Wolken zunahmen und dichter wurden. Plötzlich stellte João Miguel ihr die unwahrscheinlichste Frage, er wollte wissen, ob es gut für sie gewesen sei, eine Frage, die Tomás nie gestellt hatte, weil Tomás lieber fühlte, ob es gut für sie
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