Der Sommer der Schmetterlinge
Taxi, das sie am Vorabend bestellt hatte, leicht schaukelnd die Viehbarriere am Tor überqueren. Mit einer Umarmung, die weder um Trost bat noch Trost spendete, einer kurzen Umarmung ohne tiefere Bedeutung, verabschiedete sie sich von Narcisa.
Narcisa. Tu mir den Gefallen, bei Clarice vorbeizugehen. Sag ihr, dass ich zeitig wegmusste und dass ich ihr schreiben werde, sobald ich kann.
Sie stieg ins Auto, schloss die Tür und blickte nicht zurück. Sah nicht die Silhouette ihres Vaters in der Ferne. Sah kein Tuch mit dunkelroten Rosen auf der Straße liegen. Glaubte fest, dass sie nie wieder einen Fuß auf dieses Stück Land setzen werde.
Vielleicht hätte das sogar geschehen können, wenn Clarice nicht gewesen wäre.
Wenn Clarice nicht gewesen wäre. Clarices Nichtexistenz hätte einen entscheidenden Unterschied in ihrer aller Leben ausgemacht, für Maria Inês, Otacília, Afonso Olímpio. Doch sie existierte, wie sie immer existiert hatte: harmlos, unscheinbar, gehorsam, leise sprechend. Gekämmt und mit Schuhen an den Füßen. Maria Inês wusste, dass sie Clarice liebte. Da gab es keinen Zweifel. Nur manchmal wurde diese Liebe aggressiv und versteckte sich hinter flammenden Blicken. Aus vielen Gründen. Weil Maria Inês ihre Kindheit zu früh verloren hatte. Weil Clarice litt. Und wegen der paradoxen Logik: Wenn es Clarice nicht gäbe, würde Clarice nicht leiden.
Maria Inês dachte an die Schwester in ihrem ehelichen Schlafzimmer, wie sie ihr Haar vor der Frisierkommode kämmte und, auf der Bettkante sitzend, saubere Strümpfe anzog. Sie dachte an Ilton Xavier in Unterhosen, wie er beim Rasieren vor sich hin pfiff. Dachte an seine Eltern, wie sie vor jeder Mahlzeit bei Tisch beteten, und wie Clarice sich gehorsam bekreuzigte, amen , bevor sie langsam die Stoffserviette auseinanderfaltete. Dachte an ihre Mutter, die nun auf dem Friedhof von Jabuticabais wohnte und deren Existenz den vorbestimmten Bogen vom Nichts zum Nichts beschrieb und nur für eine kurze Phase in ihrer, Otacílias, Person Gestalt angenommen hatte. Die Mutter, die zu wenige Umarmungen für ihre Töchter gehabt hatte, zu wenige Worte und vor allem zu wenig Haltung.
Da musste Maria Inês weinen, und der Taxifahrer sah im Rückspiegel seines alten VW Variant, dass sie weinte.Er fühlte Mitleid und wollte ihr helfen, und die Hilfe, die ihm einfiel, war, ihr ein in grünes und silbernes Papier eingewickeltes Pfefferminzbonbon zu geben.
Es wurde eine mehrstündige zermürbende Reise. Der Asphalt der Straße war löchrig wie ein durchgewetztes Stück Stoff, und der Bus, mit dem sie von Jabuticabais nach Friburgo fuhr, roch schlecht, roch nach ranziger Butter und Hundefell. Von Friburgo nach Rio wurde es etwas besser. Nicht viel. Als das Gebirge endete und die Straße sich abwärtswand, stieg sofort die Temperatur. Durch die offenen Fenster des Busses hörte sie das Motorengeräusch: gleichförmig und Übelkeit erregend.
Der Sitz neben ihr war leer. Auf der anderen Seite, jenseits des schmalen Gangs stillte eine junge Mutter ihr Baby, das vollständig in eine gelbe Decke gehüllt war. Nur eine winzig kleine Hand lugte aus der Decke und umklammerte den Finger der Mutter, während die offenen Augen die Welt auf sich wirken ließen, die sie vielleicht noch gar nicht richtig wahrnehmen konnten.
Diese Welt.
Der Motor des Busses dröhnte. Maria Inês hielt ihre Reisetasche fest, als ob sie Angst hätte. Sie schloss die Augen und versank in einen Halbschlaf, aus dem sie erst wieder auftauchte, als der Bus bereits die Rio-Niterói-Brücke erreicht hatte. In der Ferne sah sie den Corcovado mit der Christusfigur oben auf dem Gipfel, die Arme ausgebreitet. Sie kehrte in die Stadt zurück, in eine weitere Wohnung, die nicht ihr Zuhause war, zu einem Geliebten,den sie nicht wirklich liebte, zu den schweren Prüfungen am Ende des zweiten Jahres an der Medizinischen Fakultät.
So gut wie nichts hatte sich verändert. Das war die schmerzlichste Feststellung.
Auf der dreckigen Toilette des Busbahnhofs von Rio de Janeiro hatte ebenfalls jemand an die Tür geschrieben, diesmal mit Tinte: Nur Jesus Christus kann dich retten .
Tomás’ helle Augen waren auf jenen Punkt gerichtet, wo die Bäume auf der Bergspitze sich schwarz vor dem Blau des Himmels abzeichneten. Er blinzelte erst, als ihm zwei Tränen über die Wange liefen, die er mit dem Rücken der rechten Hand trocknete.
Sein Weg führte ihn über jene Straße, die Maria Inês’ Kindheit geprägt hatte.
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