Der Sommer der Schmetterlinge
Das musste einen tieferen Sinn haben.
Um es deutlich zu sagen: Das alles musste einen tieferen Sinn haben.
Tomás kannte die Geschichte. Er wusste . Dann blickte er zurück, in die Richtung von Clarices Haus, und sah den Steinbruch, der sich in der Ferne erhob. Sehr hoch.
Ein verbotener Steinbruch, über dem Schmetterlinge flatterten. Der eine unfreiwillige Rolle bei der Abfolge der Ereignisse gespielt hatte und still fortdauerte in seiner steinernen Existenz.
Tomás hatte nie Interesse oder Bereitschaft gespürt, auf den hohen Berg zu steigen, über die mit Zecken verseuchte Wiese zu laufen und das Wäldchen zu durchqueren,bis man an den Steinbruch gelangte. Tomás hatte die Welt nie von dort oben betrachtet, nie den Fluss sich wie ein goldenes Band dahinschlängeln sehen, die Tiere auf der Weide wie Spielzeuge wahrgenommen und die Ipê-Fazenda in all ihrer Verlassenheit erblickt. Diese Dinge kannte er nur aus den Erzählungen von Maria Inês.
Und inzwischen interessierten sie ihn nicht mehr. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, wie vorteilhaft es war, nur wenig mit sich herumzutragen – wenige Bücher, wenige Kleidungsstücke, wenige Freundschaften und wenige Erinnerungen. Er musste lernen, alles aus seinem Leben herauszuhalten, was ihm verzichtbar erschien. Maria Inês’ Geschichte zum Beispiel.
Er zündete sich eine Zigarette an.
Natürlich war er nicht immer so gewesen, früher war er viel weniger weise gewesen. Und wesentlich eigensinniger. Doch nun hatte er das Gefühl, dass seine Tage keine Überraschungen mehr für ihn bereithielten, wenn er nur aufpasste. Wachsam blieb.
Nein, es gab keine Überraschungen mehr. Nicht einmal, als ein fremdes Auto mit niedriger Geschwindigkeit auf ihn zukam, auf der unbefestigten Straße hin und her schwankend wie eine angetrunkene Tänzerin. Nicht einmal, als das Auto mit laufendem Motor neben ihm hielt und er hinter der sich langsam senkenden Fensterscheibe die beiden Frauen erkennen konnte, eine sehr jung, die andere nicht mehr. Eine mit auffällig hellen Augen. Die andere immer noch einem Bild von Whistler ähnelnd, trotz der kurzen Haare und der dunklen Brille.
EIN WUNDERSCHÖNER RING
AUS VENEDIG
Vom Fenster seiner Wohnung aus konnte Tomás aufs Meer sehen, und auf dem Meer bewegte sich unmerklich ein Schiff. Wahrscheinlich bewegte es sich sogar recht schnell: Als er nach einigen Minuten wieder hinsah, hatte es seine Position erkennbar verändert, und selbst wenn es sich aus Tomás’ Warte dabei nur um eine winzige Etappe handelte, musste sie auf dem Meer einer beträchtlichen Wegstrecke entsprechen. Er stellte sich die Maschinen des Schiffs in Betrieb vor, die riesigen Maschinen, die von vielen Männern bedient wurden, und das Wasser, das von dem massigen Schiffsleib verdrängt wurde. Es kam ihm seltsam vor, dass aus der Ferne alles derart statisch wirkte.
In diesem Jahr sollte sich so vieles verändern. Tomás stand am Fenster seiner Wohnung in der Rua Almirante Tamandaré, inzwischen ein Mann von fünfundzwanzig Jahren, und fühlte sich von inneren Zweifeln zernagt, die zu überwinden ihn seine ständig mit Politik beschäftigten Eltern nicht gelehrt hatten. Womöglich war Tomás auch deshalb ein wenig eifersüchtig auf ihr kollektivistisches Projekt, das er selbst für aussichtslos hielt.
Aussichtslos, kann sein, hatte sein Vater einmal zu ihm gesagt. Und dann hinzugefügt: Trotzdem müssen wirkämpfen. Um unsere Würde zu bewahren, auch wenn es letzten Endes vielleicht aussichtslos ist.
Tomás, ein verwirrter junger Mann. Enttäuscht, wie schwierig es war, aus einfachen Tatsachen eine Wirklichkeit zu erschaffen (im eigenen Ich und darüber hinaus). Enttäuscht von den Wechselfällen des Lebens und davon, dass es scheinbar stets die negativen Seiten hervorkehren musste.
Seine Gemälde kamen ihm vor wie vertrocknete, zu lange im Kühlschrank vergessene Früchte. Und was sie, Maria Inês, seine Liebe und Muse, anging, so fürchtete Tomás, sie verloren zu haben – ohne sich eingestehen zu wollen, dass er sie nie besessen hatte. Aber er gab noch nicht auf.
Zur Zeit beschäftigte er sich mit religiösen Themen, und sein Stil nahm barocke Züge an. Er hatte eine riesige Madonna in leuchtenden Farben und mit vielen Pinselstrichen gemalt, die einem Kunsthändler gleich so gut gefiel, dass er sie in seiner Galerie ausstellte und zu einem anständigen Preis verkaufte. Aber nicht einmal mehr diese kleinen Erfolge konnte er mit Maria Inês teilen, da sie ihn
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