Der Sommer der Schmetterlinge
einen Traum zu erfinden oder an ihn zu denken. Um die Einigung der Welt voranzutreiben. Um sich zu wünschen, dass die Dinge völlig anders wären. Um den Geschmack der Melone, der Mandarine und der Orange, die sie nicht gegessen hatte, zu genießen. Um ganz Eduarda zu sein, ohneschlechtes Gewissen, dass sie Eduarda war, dieses kleine, wandlungsfähige Lebewesen. Und um einen Verdacht zu nähren, der in ihr pochte. Der größer wurde und sie nervös machte, als müsste sie einen selbstgeschriebenen Text laut vorlesen.
Otacília aß mit ihren Töchtern.
Bei seiner Ankunft begrüßte sie ihren Ehemann und fragte ihn, wie die Versammlung in der Kooperative gewesen sei, doch als er seine Antwort gegeben hatte, erinnerte sie sich nicht mehr an ihre Frage.
Sie trug zwei Tropfen ihres kostbaren Chanel No 5 auf, einen hinter jedes Ohr, und legte sich wieder hin, um auszuruhen.
Und als sich in ihrem von einer schwachen Lampe nur dürftig erhellten Zimmer diese einzigartige Stille ausbreitete, wusste sie, dass sie starb.
Sie hörte die Stimmen ihrer Töchter, die sich im Nebenzimmer unterhielten, in Maria Inês’ Zimmer. Sie wurden immer leiser, und plötzlich ergriff Otacília ein Schwindelgefühl, das sie an ein Schiff auf hoher See denken ließ, ein Schiff im Sturm. Dann ging auch das Schwindelgefühl vorüber, und sie schlug die Augen auf und lächelte, weil in Wahrheit alles so einfach war.
SONDERSCHICHT
Zu Otacílias Begräbnis kam auch ihre Tante Berenice aus Rio de Janeiro herbeigeeilt, die sich angesichts einer derartigen Umkehrung unwohl fühlte: die Nichte, die vor der Tante starb. Es war irritierend, wenn die Generationen die zeitliche Ordnung in solcher Weise untergruben.
Erst nach der Beerdigung rief Maria Inês Tomás an, um ihm zu sagen: Meine Mutter ist tot.
Er beschwerte sich. Du hättest mir gestern Bescheid geben sollen. Ich wäre zu euch gekommen.
Doch sie unterbrach ihn und sagte: Das war nicht nötig.
Das war nicht nötig. João Miguel war da. Ihr Cousin zweiten Grades, die Augen von echten Tränen gerötet. Mit Blumen, aber – in Anbetracht der Situation – ohne Pralinen.
Auf dem kleinen Friedhof von Jabuticabais meinte Afonso Olímpio zu sehen, wie sich die Welt über seinem Kopf im Kreis drehte. Und auch in seinem Kopf drehte sie sich. Auf der braunen Haut seines Gesichts zeichneten sich tiefe Augenringe ab, zwei Furchen rahmten seinen Mund. Er war ungekämmt. Der dunkle Anzug saß schlecht, obwohl er bei anderen Gelegenheiten gut gesessen hatte, sein maßgeschneiderter Anzug aus englischemTropical. Herausfordernd stand Maria Inês neben ihm. Sie weinte nicht. Clarice dagegen, etwas weiter weg in Ilton Xaviers Arme geschmiegt, weinte viel.
Er. Afonso Olímpio, der Ehemann, der Witwer. Der Vater.
Er hatte getrunken. Maria Inês wusste es und auch Clarice. Er, Afonso Olímpio, der einmal ehrlich geliebt worden war. Nun stand er neben seinen feindlich gesinnten Töchtern und begrub seine feindlich gesinnte Frau.
Als er gegen Abend in seinem Rural Willys zurück nach Hause fuhr, sah er den Himmel bluten. Am Rückspiegel hing ein hölzerner Rosenkranz, und das kleine Kruzifix schaukelte im Rhythmus der unbefestigten Straße, den Launen der Schlaglöcher, der vom Regen ausgespülten Rinnen, der Steine und des Schotters ausgesetzt.
Nach so vielen Jahren einer unaufgeregten Ehe drehte sich der Schlüssel vertraut im Schloss. Im Haus aber gab es einen neuen Bewohner: Ohne um Erlaubnis zu bitten, hatte sich dort das schlaflose Schweigen mit all seinem Gepäck auf Dauer niedergelassen.
Afonso Olímpio betrat das Fegefeuer. Wie ein misstrauischer Wolf, der nach Fallen sucht, inspizierte er jedes Zimmer. Witterte und erkannte den Geruch von Otacílias Parfüm, der sie selbst lange überleben sollte. Er schaltete kein Licht an, sondern ging im Halbdunkel ins Bad, wusch sich Hände und Gesicht. Er kam sich vor wie eine Wüste, über deren weiße Sandflächen der Wind weht. Unfruchtbar und vollständig leer. Aus dem großen Küchenschrank nahm er ein Glas. Dann ging er zur Wohnzimmertruhe,in der er mehrere Flaschen mit starken Getränken unter Verschluss hielt.
Dort hatte er Whisky. Und Cachaça. Die beste erzeugerabgefüllte Cachaça von Minas Gerais. Aus Barbacena mitgebracht. Er füllte sein Glas und machte sich bereit, der Nacht ins Auge zu blicken.
Er hatte den Eindruck, dass ein anderer als er selbst, ein Doppelgänger, sich an den Tisch setzte, um die von Narcisa zubereitete Gemüsesuppe
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